18. Festival des Neuen Lateinamerikanischen Kinos
Havanna 1996

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    Festivalkritiken:


    Immer noch ein Massenspektakel

    Das lateinamerikanische Kino auf seinem 18. Festival

    Von Peter B. Schumann

    Havanna. Eine Cubanische Messe in der Kathedrale, komponiert von José María Vitier , einem der bekanntesten Komponisten der Insel, der viele Filmmusiken verfaßt hat, gab dem Kardinal von Kuba, Jaime Ortega, Gelegenheit zu einem ungewöhnlichen Auftritt. Denn zu der Feier de Eucharistie waren zum erstenmal hohe Vertreter des Staates anwesend: Kulturminister Armando Hart und der heimliche Kulturminister Alfredo Guevara, seines Zeichens Filminstituts-Präsident und Festivaldirektor, beides alte Vertraute Fidel Castros.

    Eine erste öffentliche Probe der Annäherung zwischen Staat und katholischer Kirche, die sogar auf den berühmten Platz der vor der Kathedrale übertragen wurde und deren Grundtenor versöhnlich und patriotisch klang - Einstimmung auf den nunmehr für April vorgesehenen Papst-Besuch.

    Daß sie zur Zeit des Filmfestival, also unter Teilnahme einer internationalen Öffentlichkeit, ausgerichtet und vom Filminstitut aufgezeichnet wurde, zeigt dessen hohen politischen Stellenwert: Das Filmfestival ist neben der Kunstbiennale die wichtigste Kulturveranstaltung der Insel, ein weitgehend offenes Forum der filmischen Jahresproduktion Lateinamerikas. Aber auch ein Blick in die Weltkinematographie mit Hommagen, Panoramen, Retrospektiven, daunter sogar Beispiele für den unabhängigen Film der USA, für das Werk von Peter Greenaway, Werner Herzog und Ken Loach sowie Produktionen des deutsch-französischen Kulturkanals Arte.

    Ein Fest für die Augen der Kubaner, die von solcher Information sonst abgeschnitten sind und sie nun in zahlreichen Kinos der Hauptstadt miterleben konnten. Das Festival ist ein populäres Ereignis, an dem eine halbe Million Zuschauer teilnimmt. Seine weitere Öffnung zur internationalen Filmkunst, die endlich auch avantgardistische Entwicklungen einbezog, ist ein großer Gewinn für diese Veranstaltung, die allzulange der schwankenden Attraktivität des lateinamerikanischen Films vertraute.

    Um die über zwei Dutzend 'Korallen'-Preise bewarben sich 48 Spielfilme und acht lange Dokumentarfilme sowie eine Fülle von Kurzfilmen und Videos aller Genres. Sie zeigen sehr widersprüchliche Entwicklungen: eine Wiedergeburt des brasilianischen Spielfilms, einen Produktionsboom in Argentinien, einen kleinen Aufschwung in Venezuela, den Ansatz eines Neubeginns in Peru, eine Folge neuer Filmgesetze.

    In Argentinien erreicht die Förderung bereits einen gewissen Wahnsinn. Die Filmproduktion scheint der einzige produktive Sektor des Landes, der wirklich floriert. In diesem Jahr sind dort 35 Spielfilme entstanden, 1997 soll sich die Zahl verdoppeln, weil die diversen Abgaben der Branche selbst, vom Privatfernsehen und aus dem Videogeschäft, viel Geld in den Subventionstopf spülen. Bis zu 80 Millionen Mark sollen nächstes Jahr zur Verfügung stehen, mehr als in allen Ländern Lateinamerikas zusammen. Die Frage ist nur: wo sollen all diese Filme gezeigt werden in einem Land, das nur noch über etwa 250 Filmtheater verfügt? Außerdem sind die bemerkenswertesten argentinischen Beiträge unabhängig von diesem üppigen Förderungssystem produziert worden und haben nur einen Bruchteil der Durchschnittskosten von etwa zwei Millionen Mark benötigt. (zur Situation in Argentinien s.a. Olaf Berg)

    So MOEBIUS, so die Kollektivarbeit der Film-Universität in Buenos Aires. Ihre jungen Autoren erzählen keine, Geschichte, sondern stellen einen physikalischen Glaubenssatz des deutschen Astronomen Möbius, eine Beziehung zwischen Raum und Zeit, in den Mittelpunkt und verdichten sie zu einer bemerkenswert perfekt inszenierten Parabel auf die Manipulierbarkeit des menschlichen Denkens. Ihre künstlerische Gestaltung wurde gleich mit zwei Korallen bedacht. Und PICADO FINO (FEINES PULVER - gemeint ist Kokain) von Esteban Sapir, ein erster Spielfilm in Schwarzweiß, die Beschreibung eines Achtzehnjährigen, der verzweifelt seinen Ort in der Gesellschaft sucht. Ein marginaler Film über Marginalität in Argentinien, der den finanziellen Mangel zu einer Tugend ungewöhnlicher Bildästhetik erhebt; die Jury des internationalen Kritikerverbands Fipresci würdigte diese Expressivität.

    Die großen Produktionen erschöpften sich dagegen häufig in formaler Konventionalität, dem lateinamerikanischen Mainstream eines risikoscheuen Erzählkinos. Am erschreckendsten scheitern immer wieder Initiatoren des einst Neuen Kinos wie nun Carlos Diegues, der das Cinema Novo Brasiliens miterfand. Er vertraute in TIETA DO AGRESTE allzu sehr auf die spekulativen Elemente der literarischen Vorlage von Jorge Amado, auf die Musik des populären Caetano Veloso, die Sinnlichkeit von Sonia Braga und die Schönheit brasilianischer Strandlandschaft, rührte ein bißchen Umweltschutz und Bodenspekulation darunter, um auch politische Emotionen zu erwecken, vergaß aber völlig, daß bei ihm früher Film etwas mit Form zu tun hatte und nicht nur der Illustrierung diente - und setzte so zehn Millionen Mark in den heißen Sand. (s.a. Olaf Berg) »Das Kino ist tot.« - deklarierte zwar nicht deswegen Peter Greenaway in einer vielbeachteten Pressekonferenz., aber es hätte gut für andere Beispiele solcher Konsumkunst passen können. Der englische Avantgardist fügte auch gleich hinzu: »Es lebe das Kino!«, meinte damit jedoch, daß sich die herkömmlichen Produktions- und Verbreitungsformen erschöpft haben, daß er künftig eher ans Internet als ans Kino denke. Das war zumindest für die Kubaner etwas irritierend, denn ihr Zugang zur Wunderwelt der Elektronen ist staatlich reglementiert und also Zukunftsmusik. Dennoch wurde diese Begegnung mit einem Meister als außerordentlich erfrischend empfunden, denn das Festival hat sich allzulange auf seinen karibischen Lorbeeren und der internationalen Solidarität ausgeruht. Es muß sich dringend den neuen Entwicklungen stellen und aktiv dazu beitragen, damit der lateinamerikanische Film endlich seine erlauchte Konventionalität überwindet.

    Wie schnell es bergab gehen kann, zeigt das Beispiel Mexiko. In diesem traditionellen Filmland wurden bis in die 80er Jahre oft über hundert Spielfilme hervorgebracht. Vieles davon war sicher Fastfood, es hat aber immer wieder erstaunlich originelle und eigenwillige Filme gegeben. Seit Jahren ist die Produktion rückläufig, 1996 wurden mit Hilfe des Staats und von Televicine noch ganze acht Spielfilme hergestellt. Für 1997 hat das Filminstitut nur noch ein Produktionsbudget von zwei Millionen Mark zur Verfügung; sein neuer Direktor Diego López, strahlt Zuversicht aus. Doch zuätzliche Mitteln verbessern nicht unbedingt das filmische Resultat, das zur Zeit in Lateinamerika nicht konkurrenzfähig ist, wenn auch Arturo Ripstein mit PROFUNDO CARMESÍ (TIEFROT) nicht nur die 'Große Koralle' für den besten Film, sondern noch zwei weitere für Regie und Musik erhielt. (zu diesem Film s.a. Olaf Berg)

    Die Welt von zwei in die Marginalität abgedrifteten Heiratsschwindlern, deren Geschäfte stets tödlich ausgehen, bis sie selbst Opfer der Gewalt werden, ist aus einer dichten Atmosphäre heraus entwickelt, die Ripstein immer wieder meisterhaft aufbaut, mit Spuren von Schrecken und Lachen durchsetzt. Doch dafür nun gleich drei 'Korallen' war doch ein bißchen viel, wo es daneben schließlich den poetischen Film aus Argentinien DESABÍLATE AMOR (WACH AUF LIEBE) von Eliseo Subiela gegeben hat, sicher kein Hauptwerk, aber eines der schönsten innerhalb des allgemeinen Kanons und wesentlich gelungener als andere, das mit ' Korallen' geschmückt wurde. (zu diesem Film s.a. Olaf Berg)

    Wie wichtig die Präsenz des Gastgeberlandes für das Gelingen eines Festivlas ist, zeigte sich an Kuba. In früheren Jahren sorgten seine Spielfilme für Spannung, manchmal für Aufregung. Die schwache finanzielle Lages des Filminstituts ICAIC und seine Abhängigkeit von ausländischen Koproduzenten waren die Ursache dafür, daß die Insel zum erstenmal seit Jahren im Wettbewerb der Kinofilme nicht vertreten war. Es ist aber 1997 nicht zu erwarten, daß das Modell von YO SOY. DEL SON A LA SALSA (ICH BIN. VOM SON ZUR SALSA) Schule macht: Der abendfüllende Beitrag des kubanischen Regisseurs Rigoberto López, der einen wichtigen Teil der Musikkultur der Insel und ihre Einflüsse auf Puerto Rico und in die New Yorker Musikszene dokumentiert, wurde von einer US-Firma produziert. Er erhielt als wohl eher politisch gemeinte Prämie die 'Große Koralle' für den besten langen Dokumentarfilm, obwohl ein ein vergleichbares brasilianisches Werk BAHIA DE TODOS OS SAMBAS (BAHIA ALLER SAMBAS) von Paulo César Saraceni höhere filmische Qualitäten besaß. (zu YO SOY. DEL SON A LA SALSA s.a. Olaf Berg)

    Kuba und seine Widersprüche: Es ist auch für sie ein zuverlässiger Spiegel, dieses Festival, daß auf geradezu wundersame Weise trotz der Exitenznöte des Landes für Cineasten und Bevölkerung weitergeführt wird."

    Peter B. Schumann. In Frankfurter Rundschau, 4.1.1997


    Neues Lateinamerikanisches Kino

    Filmfest von Havanna 1996

    von Olaf Berg

    Letztes Wochenende ging das 18. Filmfest von Havanna zuende, dessen Geschichte auf das Jahr 1969 zurückgeht. Damals trafen sich im chilenischen Viña del Mar die Filmemacher der noch jungen Bewegung des Neuen Lateinamerikanischen Kino zum ersten Festival. Zunächst aus finanziellen, später aus politischen Gründen, konnte kein weiteres in Chile stattfinden. 1979 gab Kuba dem Festival eine neue Heimat und richtet es seit dem alljährlich in Havanna aus. Ziel ist es, die lateinamerikanische Filmproduktion eines Jahres möglichst umfassend zu dokumentieren. Der Wettbewerb ist deshalb ohne Vorauswahl für alle offen. Hinzu kommen Nebenreihen mit nordamerikanischen Independent-Produktionen und Filmen aus europäischen Ländern. Für die kubanische Bevölkerung eine einmalige Gelegenheit ausländische Produktionen im Kino zu sehen, denn aus Devisenmangel kann das kubanische Filminstitut ICAIC nur alle zwei Wochen einen neuen Film starten.

    Die gesellschaftlichen Veränderungen in Kuba schlagen sich auch im Festivalambiente nieder. War in der Vergangenheit das traditionsreiche Hotel Nacional mit seinem Garten unangefochtenes Zentrum des Festivals, so nutzen immer mehr Gäste das Angebot privater Zimmervermietung und Restaurants. Zahlreiche ambulante Händler säumen den Weg zwischen den Kinos, für den sich private Taxifahrer anbieten. Bereits im letzten Jahr fand auf ausdrücklichen Wunsch der Festivalleitung eine katholische Messe statt. Dieses Jahr wurde im Zeichen des bevorstehenden Papstbesuches noch eins draufgelegt: Eine eigens dafür komponierte Messe, vorgetragen vom prominenten kubanischen KünstlerInnen. Selbst Silvio Rodríguez gab sich dafür her.

    Den mit Abstand besten Eindruck hinterließen bei mir die Filme aus Argentinien. Ein neues Gesetz, daß nicht nur auf Kinovorführungen sondern auch auf Fernsehausstrahlungen eine Art Kulturabgabe erhebt, mit dem die nationale Filmproduktion gefördert wird, zeitigt Früchte: Mit 38 Spielfilmen hat Argentinien 1996 seine höchste Jahresproduktion seit den 70ern erreicht. Alberto Lecchi präsentierte mit EL DEDO EN LA LLAGA (DER FINGER IN DER WUNDE) eine Komödie mit Hintersinn, die um zwei Kleinkünstler rankt, die in die Bürgermeisterwahlen eines Provinzstädtchen hineinplatzen. Der Film gewann neben dem Publikumspreis den FIPRESCI-Preis der Filmkritik und den der kirchlichen OCIC. Eliseo Subiela erzählt in DESPABÍLATE AMOR (WACH AUF LIEBE) die Geschichte einer Gruppe von Mitvierzigern, die in ihrer Jugend Ende der 60er Jahre in einer Clique waren und mittlerweile sehr unterschiedliche Weg gegangen sind. (s.a. Geri Krebs) Alejandro Agresti schildert in BUENOS AIRES VICE VERSA die Geschichte von Jugendlichen in Buenos Aires von heute, geprägt von Hektik, Gewalt und komunikativer Unfähigkeit.

    Allen drei Filmen gmeinsam ist ein oft nur impliziter, aber dennoch deutlicher Verweis auf die Zeit der Militärdiktatur die tausende von Oppositionellen umbrachte und »verschwinden« ließ oder ins Exil trieb. In EL DEDO EN LA LLAGA sind es die örtlichen Autoritäten, die damit drohen, wie in alten Zeiten mit den aufmüpfigen Schauspielern und ihren jugendlichen UnterstützerInnen umzuspringen. In DESPABÍLATE AMOR sind es die verlorenen Freunde und die eigene Exilgeschichte, die immer wieder durchscheinen. In BUENEOS AIRES VICE VERSA sind es die nicht vorhandenen Eltern, die zunächst nur beiläufig auf den Hintergrund der Militärdiktatur verweisen, bis der Onkel einer der Jungen eine Frau »zum Spaß« foltert. Was vorher nur Andeutung war, dechiffriert sich von nun an ausdrücklich als die allgegenwärtige Anwesenheit der Diktatur-Vergangenheit. Ebenfalls gemein ist allen drei Filmen die Hoffnung, daß die Generation der heute 40jährigen ihre Utopien nicht gänzlich aufgegeben hat und daß die Diktatur es nicht vermochte, der Jugend das kritische Denken auszutreiben.

    Der mexikanische Regisseur Arturo Ripstein konnte mit PROFUNDO CARMESÍ den ersten Preis gewinnen. Die Geschichte eines Heiratsschwindlers, dem seine Geliebte aus Eifersucht die Frauen umbringt, erzählt er routiniert mit schwarzem Humor. Ein unspektakulärer Film, der den Preis vermutlich nur aufgrund der langen Freundschaft Ripsteins mit dem Festival gewonnen hat. Interessanter, wenngleich weniger perfekt in der Umsetzung war da das Erstlingswerk ENTRE PANCHO VILLA Y UNA MUJER DESNUDA (ZWISCHEN PANCHO VILLA UND EINER NACKTEN FRAU) von Sabina Berman und Isabelle Tardan. Auf komödiantischer Weise demontieren die beiden Frauen den Macho-Mythos, verkörpert im mexikanischen Revolutionshelden Pancho Villa, der dem Protagonisten der im heutigen Mexiko spielenden Handlung Ratschläge für den richtigen Umgang mit Frauen gibt. (s.a. Geri Krebs)

    Als drittes großes Filmland war Brasilien mit vielen Filmen vertreten. Am interessantesten davon CALIGRAMA von Elianne Caffé, Gewinner des Experimentalfimpreises, der das Lebensgefühl von Obdachlosen in Sáo Paulo zu vermitteln sucht.. Das Erstlingswerk TERRA ESTRANGEIRA (FREMDES LAND) von Walter Salles Jr. und Daniela Thomas, schildert die mit immer neuen Komplikationen gespickte Reise eines jungen Brasilianers nach Lissabon, die er sich als Drogenkurier finanziert. TIETA DO AGRESTE von Carlos Diegues, eine Kommödie über eine einst aus ihrem Dorf verstoßene Frau, die in der Großstadt zu Geld gekommen ist und nun, bei ihrer Rückkehr in der Erwartung gefeiert wird, daß sie den »Fortschritt« in den Ort bringt. (s.a. Geri Krebs)

    Der kubanischen Filmproduktion ist die ökonomische Krise, die das Land durchlebt, deutlich anzusehen. Das Filminstitut ICAIC muß 100 % selbstfinaziert arbeiten und führt darüber hinaus ein Fünftel der Einnahmen an den Staat ab. Der Name Kuba taucht zwar als Koproduzent vieler Filme auf, ein Ergebnis erfolgreicher Bemühungen das Land als billigen Drehort mit qualifiziertem Personal und SchauspielerInnen zu vemarkten, für einen eigenen langen Spiefilm reichte das Geld 1996 jedoch nicht. Immerhin konnte Rigoberto López mit YO SOY DEL SON A LA SALSA, eine Dokumentation über kubanische Musikgeschichte, den ersten Preis für Dokumentarfilm einheimsen. In Havannas Kinos wurde der ansonsten durchschnittliche Film dadurch zum Erlebnis, daß fast alle KubanerInnen begeistert mitsangen. (s.a. Geri Krebs) Die beiden Kurzspielfilme im Wettbeweb konnten nicht überzeugen. Fernando Timossi Dolinsky läßt in BLUE MOON drei Alte sich in verworrenen Rückblenden an eine Auseinandersetzung im Rotlichtmillieu des vorrevolutionären Kubas erinnern, ohne daß erkennbar wäre, was er uns damit sagen will. Manuel Antonio Rodríguez läßt in EL SARDINA ein junges Pärchen auf einen Alten treffen, dessen Kinder sein Boot geklaut haben, um auf die Bermudas abzuhauen. Leider hat er sich nicht entscheiden können, ob er seinen Film als Klamotte oder als ernsthaft erzählte Geschichte gestalten will. (s.a. Geri Krebs)

    Olaf Berg In Junge Welt 23.12.1996


    Kino, Salsa, Rumba - und eine Messe

    Das kubanische Filmfestival ist ein kultureller Großanlaß

    von Geri Krebs

    Letzten Freitag ging das 18. Internationale Festival des neuen lateinamerikanischen Films in Havanna mit der Preisverleihung zu Ende. Die schweren Zeiten Kubas und die materiellen Schwierigkeiten, in denen das kubanische Kino steht, waren evident: Erstmals war kein einheimischer Spielfilm im Wettbewerb selbst vertreten. Kubanische Filme gab es trotzdem zu sehen - und kubanische Kultur aus anderen Sparen wurde gleich mitgefeiert.

    Dies diesjährige Ausgabe des wichtigsten Filmfestivals Lateinamerikas war gekennzeichnet durch eine noch größere Zahl von Filmen als 1995 - 50 allein in der Hauptkategorie des Wettbewerbs. Vieles davon bewegte sich zwar irgendwo zwischen Telenovela und Actionfilm. Das lateinamerikanische Kino lebt, aber um sich gegen die erdrückende Konkurrenz aus Hollywood behaupten zu können, ist der Wille zum Kommerz immer ausgeprägter. Trotzdem gab es unter den prämierten Filmen - und nicht nur dort - einige beachtliche Werke zu sehen. Allerdings fehlte die große Sensation, wie sie sich letztmals 1993 mit FRESA Y CHOCOLATE von Tomás »Titon« Gutiérrez Alea und Juan Carlos Tabío manifestiert hatte. Auffallend war die gegenüber früheren Jahren noch höhere Zahl an Koproduktionen, vor allem mit Ländern aus der EU. Nur so, hieß es, könne die Zukunft des lateinamerikanischen Films gesichtert werden.

    Legendäre Publikumsbeteiligung

    Das Filmfestival, mittlerweile das kulturelle Großereignis Kubas mit einer schon legendären Publikumsbeteiligung, ist ohnehin immer weniger eine rein lateinamerikanische Filmschau. Dies demonstrierte schon der Eröffnungsfilm. Nach einer konfus-offizialistischen Rede Alfredo Guevaras, Festivalpräsident und Direktor des Filminstituts ICAIC, wurde Ken Loachs CARLA`S SONG gezeigt: ein Film eines linken Europäers über ein lateinamerikanisches Thema - den Horror des »Contra«-Kriegs im Nicaragua der achtziger Jahre -, präsentiert zum Auftakt eines lateinamerikanischen Filmfestivals. Die Quantität nichtlateinamerikanischer Filme dürfte bald einmal die der lateinamerikanischen erreicht haben, fast endlos die Serie von Werkschauen, Länderreihen usw.. Der Andrang des kubanischen Publikums war riesig, bieten doch diese zehn Tage des Festivals fast die einzige Gelegenheit zu solchen Filmen. Denn das Angebot des kubanischen Fernsehens ist dürftig (meist zweitklassige Hollywoodfilme), und das Budget des ICAIC, das die Programmierung der Kinos im ganzen Land besorgt, reicht gerade für den Einkauf von etwa 25 neuen Filmen pro Jahr.

    Aber nicht nur hinsichtlich der Filme präsentierte sich ein erweitertes Angebot: Es gab nicht nur die schon traditionellen Salsa-, Rumba- und Trova-Konzerte, sondern auch klassische Musik und, hochoffizieller Höhepunkt am Sonntag, eine ökumenische Messe. Zwar hatte es schon letztes Jahr als Novum kleinere Gottesdienste verschiedener Konfessionen gegeben, aber dieses Mal las Kardinal Jaime Ortega in Havannas Kathedrale die Messe, und José María Vitier, einer der renommiertesten Komponisten und Musiker der Insel (bekannt auch durch die Filmmusik zu FRESA Y CHOCOLATE), hatte für den Anlass eine Misa Cubana komponiert, ein Kamerateam des ICAIC filmte, und zum Abschluß schüttelte der Kardinal dem »Genossen Kulturminister« die Hand - der Besuch des Comandante beim Papst vor Monatsfrist zeigt erste Auswirkungen.

    »Das Paradies existiert nicht, auch wenn ihr immer danach sucht, das einzige Wort, das zählt, heißt jetzt.« Der Satz stammt aus DESPABILATE AMOR des Argentiniers Eliseo Subiela, der Titel seinerseits bezieht sich auf ein Gedicht des uruguayischen Poeten Mario Benedetti. Subiela blieb seinem Ruf als Magier des poetischen Realismus in dieser Liebesgeschichte zwischen einer jungen Cellistin und einem fünfzigjährigen Nostalgiker, der vom Rock´n´roll der fünfziger und dem politischen Engagement der sechziger Jahre träumt. Auch sonst war das argentinische Kino zahlenmäßig am stärksten präsent, mit 14 Filmen allein in der Hautkategorie. Ausgezeichnet mit dem ersten Preis wurde aber zum dritten aufeinanderfolgenden Mal ein Werk aus Mexiko: PROFUNDO CARMESÌ (TIEFES KARMINROT) , eine schwarze Komödie von Arturo Ripstein, in Venedig bereits für das beste Drehbuch prämiert. Einen Höhepunkt des brasilianischen Kinos markierte der mit einem Nebenpreis ausgezeichenete Film TIETA DO AGRESTE von Carlos Diegues mit Sonja Braga in der Hauptrolle, ein Film voller Lebenslust und Sinnlichkeit, der bereits für die Oscar-Nominierung eingereicht wurde. Leer ging leider die mexikanische Komödie ENTRE PANCHO VILLA Y UNA MUJER DESNUDA vom Regieduo Sabine Berman und Isabelle Tardan aus, obwohl das Erstlingswerk das Thema des Machismo auf selten erfrischende und komische Art präsentierte.

    Cuba libre

    Das kubanische Kino war in erster Linie durch die Werkschau des im April verstorbenen Meisterregisseurs Tomás »Titón« Gutiérrez Alea vertreten. Daß für »Titón« keinen Ersatz gebe, wurde denn auch beklagt, und wie ein Echo tauchen Schauspieler und Schauspielerinnen aus seinen letzten beiden Filmen in zahlreichen neuen Produktionen auf. So Vladimir Cruz (der Jungkommunist aus FRESA Y CHOCOLATE), der eine der Hauptrollen in CUBA LIBRE spielte. CUBA LIBRE, obwohl kein kubanischer Film, sondern das Erstlingswerk des Italieners David Riondino, spielt zwar in Havanna, handelt aber weniger von Kuba als von den Träumen, die politisierte Europäer und Europäerinnen auf die Insel tragen. Selten ist in einem Film der Zusammenprall dieser Träume mit der gegenwärtigen kubanischen Realität so bissig, geistreich und selbstironisch dargestellt worden wie in CUBA LIBRE.

    Der »kubanische« Humor, der diesen Film kennzeichnet, manifestiert sich schließlich auch noch in einer »richtigen« kubanischen Produktion, EL SARDINA, einem halbstündigen Werk des jungen Regisseurs Manuel Antonio Rodriguez, das ohne falschen Respekt, aber etwas arg komprimiert das Thema der Bootsflüchtlinge abhandelt. Von seiten des ICAIC wurde versichert, nächstes Jahr würden mindestens drei neue Spielfilme fertiggestellt - noch besteht also Hoffnung für den kubanischen Spielfilm. Einen kubanischen Höhepunkt bildete allerdings ein Dokumentarfilm: YO SOY DEL SON A LA SALSA von Rigoberto Lopez Pego. Der bewegende, vom kubanischen Publikum überschwänglich gefeierte Musikfilm zeichnet achtzig Jahre afokubanischer Musikkultur vom Son Montuno bis zu heutigen Bands, wie »NG la Banda« nach und bringt zusammen, was aus politischen Gründen über dreißig Jahre lang getrennt war: Salsa aus Puerto Rico, New York und Havanna. Erstmals seit Jahrzehnten waren in einem kubanischen Kino bisher verfemte Stars wie Celia Cruz, Tito Puente oder Oscar de León zu sehen und wurden vom Publikum frenetisch beklatscht. Das hat das kubanische Kulturministerium nun davon, daß es Salsa als »unpolitische Tanzmusik« in den letzten Jahren so stark propagierte.

    Geri Krebs in: Neue Züricher Zeitung 20.12.1996