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ORG

FERMAGHORG (Fernando Birri), Italien, 1967-78,
120 min., Experimentalspielfilm, Farbe, 35 mm, O.m.U.

Inhalt

Wir befinden uns in der Zukunft einige Jahre nach der Explosion des Großen Atompilzes. Nur wenige Wesen bewohnen die Erde. Es sind ZOHOMM alias Laser-in-den-Augen (dargestellt von Terence Hill, SHUICK alias Radioaktives-Blütenblatt (gespielt von der Jugoslawin Lidja Jaraçik), GRRR alias Verlorene-Schraubenmutter (personifiziert von dem schwarzen Schauspieler Isaac Twen Obu aus Kamerun), der VOGEL PHÖNIX und ALLES GEDÄCHNIS DER WELT, der alte Magier. Der Schwarze GRR hilft dem weißen Freund Zohomm, die geliebte SHUICK zu erobern. Während eines interplanetarischen Wochenendes der drei befragt der eifersüchtige ZOHOMM über seine Frau und den Freund eine alte elektronische Ruine: die kybernetische Sybille. Er erhält als Antwort die Bestätigung seines Verdachts und trennt sich verzweifelt den Kopf vom Leib. Der Freund, welcher ihn tot auffindet, begeht auf die gleiche Weise Selbstmord. Als SHUICK beide entdeckt, will sie sich verzweifelt in einen Abgrund stürzen, doch die Sibylle hindert sie und hilft ihr, beide Freunde ins Leben zurückzurufen. SHUICK läßt beide auferstehen. Aber sie vertauscht aus Versehen (oder auch nicht?) die Köpfe. So entsteht ein Streit zwischen ZOHOMMS Kopf (mit dem Körper von GRRR) und dem Kopf von GRRR (auf dem Körper von ZOHOMM) darüber, wer nun zur Frau gehört. Um das Dilemma zu lösen, wenden sich die drei an ALLES GEDÄCHNIS DER WELT, den weisen Besitzer der irdischen Wissenschaft und Kultur, der auf einem Asteroiden gerade seinen einsamen Winterschlaf hält. Das Urteil des Meisters spricht das Recht dem Kopf von ZOHOMM zu, womit er für SHUICK und ZOHOMM das Glück diktiert. GRRR wählt mit seinem neuen weißen Körper niedergeschlagen den Weg ins Exil.

Zeit vergeht. SHUICK bekommt ein Kind, ZOHOMMS schwarzer Körper verliert an Farbe und SHUICK beginnt wieder an GRRR zu denken. Zusammen mit ihrem Jungen unternimmt sie eine intergalaktische Reise, um diesen zu suchen. ZOHOMM verfolgt sie insgeheim und entdeckt sie schließlich beim Liebesakt mit GRRR. Auf neue ZOHOMMS Wut und Eifersucht. Die drei Freunde analysieren mögliche Lösungen ihres Problems. Da das irdische Erbe zu stark auf ihnen lastet, schlußfolgern sie, das Glück von zweien führe unausweichlich zum Unglück des Dritten. Angesichts der Alternative eines Gleichgewichts, das einzulösen ihnen die egoistische Veranlagung der Männer verbietet, werden sie sich selbst zerstören und das Kind als Erbschaft hinterlassen. Mit ihm bleibt die Hoffnung auf ein harmonisches Leben.


Filmkritiken

Die erste öffentliche Vorführung von ORG fand am 31. August 1979 auf der Biennale in Venedig statt. Dann blieb der Film lange Zeit unter Verschluß. Der Hauptdarsteller Terence Hill, der in einem finanziell sehr prekären Moment der Produktion die Rechte an dem Film erworben hatte, weigerte sich noch bis vor kurzem, die Aufführung des Film zu gestatten. Erst 1992 ist es gelungen, eine gekürzte Fassung (120 Minuten - das Original dauert 177 Minuten) in Deutschland zu sehen.

Die Geschichte von ORG basiert auf einem Kurzroman von Thomas Mann, den er 1936 unter dem Titel »Die vertauschten Köpfe«. verfaßte. Dieser Kurzroman leitet sich wiederum aus einer hindustischen Legende ab, die zum Zyklus »Die fünfundzwanzig Geschichten des Vetala« gehört und die seinerzeit dem König Vikramaditya von Indien erzählt wurden. Fernando Birri erhielt sie 1967, als er in Indien weilte, von Octavio Paz, dem damaligen diplomatischen Vertreter Mexikos in Neu Delhi und heutigen Nobelpreisträger für Literatur.

Diese Geschichte, die Fernando Birri in einer indischer Version hielt, faszinierte ihn so sehr, daß er sie in mühevoller Kleinarbeit in Zelluloid verwandelte:

"Der Stoff inspirierte mich. Ich adaptierte und verwandelte ihn wie ein Alchimist, um zum vorliegenden Ergebnis zu kommen. Natürlich ist es nicht gesagt, daß der Alchimist alles in Gold verwandelt. Aber das wichtigste dabei ist, daß er sich selbst in gewisser Weise verwandelt, während er diese Gold sucht, das er vielleicht gar nicht findet. Und ich bekenne, daß mich die 11 Jahre Arbeit an Org verwandelt haben. Zu dieser Arbeit könnte ich einige Zahlen anführen: Der Film hat über 26.000 Schnittstellen, 600-700 Tonspuren, mehrfach belichtete Bildaufnahmen ... Ich probierte alles, von dem es hieß, es ließe sich in einem Film nie realisieren, ohne mir Gedanken über das Ergebnis zu machen, sondern über die Vorgangsweise."

Fernando Birri anläßlich der Präsentation von ORG, der zum erstenmal in Lateinamerika im Rahmen einer Retrospektive seiner Arbeiten beim Vll. Festival des Nuevo Cine Latinoamericano in Havanna gezeigt wurde. (Abschrift einer Kopie von Luciano Vallette von der Originalaufnahme von Sergio Muñiz im Theater La Rampa von Havanna am 4.12.1985). In: Groschup, Helmut; Wurm, Renate (Hrsg.); Fernando Birri - Kino der Befreiung, Südwind-Verlag, Salzburg, Innsbruck, Wien (Österreich) 1991, S. 151

Die 26.000 Schnittstellen wurden von drei Frauen jeweils in 8.340 Stunden Arbeit zusammengefügt. Von 1968 bis 1978 hat Fernado Birri an dem Experiment gearbeitet.

"Es sind 10 Lebensjahre, in denen sich Leben und Kino [...] wirklich vermischen, wo es nicht möglich ist zu trennen, wo das Kino aufhört und das Leben beginnt und umgekehrt. Es ist nicht so, als ob ich vorsätzlich 10 Jahre lang 8, 9, 10 Stunden täglich gearbeitet habe, als hätte ich das fertige Produkt vor Augen gehabt. Ich habe 10 Jahre lang gelebt, in denen ich einen Film abgesondert habe sowie - ich könnte auf eine Methapher zurückgreifen - zum Beispiel eine Auster, die, dringt ein Sandkorn in sie, Schleim absondert, um sich zu verteidigen, und dieser Schleim kann von außen betrachtet eine Perle sein, doch während die Auster sie macht, ist ihr nicht bewußt, daß sie eine Perle macht, sondern sie lebt, um sich gegen das Sandkorn zu verteidigen. Ich könnte auf die Methapher des Baumstammes zurückgreifen. Wenn Du den Stamm eines Baumes zersägst, liest Du in den Ringen die Tage, die Sonne, den Regen, den Wind, die vorbeistreichende Zeit. Ich liebte es einmal zu sagen, daß, könnte man das Fotogramm des Films quer durchschneiden, dann könnte man in diesem Fotogramm die Geschichte dieser 10 Jahre ablesen. Der Film ist eine Collage."

López, Rigoberto, Die Träume mit »obstinato rigore in: Cine cubano Havanna 1980, H. 38, S. 49-55; Übersetzung in: Kürner, Peter; Fernando Birri (Materialien und Dokumente), Westdeutsche Kurzfilmtage Oberhausen (Hrsg.), Oberhausen, 1987, S.98

Die Montage des Films geht in seinen Wurzeln zurück auf das Prinzip der Collage-Montage, auf die dadaistische Fotomontage (Grosz, Hausmann, Heartfield) und nimmt das Grundmuster des heutigen Videoclips voraus. Ähnlich wie die Werke der Surrealisten und Dadaisten ist ORG kein geschlossenes künstlerischer Werk.

"Im Einklang mit den schöpferischen Unternehmungen der Dadaisten und Surrealisten führt Birri jeglichen Begriff des (geschlossenen) künstlerischen Werkes ad absurdum, inbegriffen der in Traditionen legitimierten Gestaltungs- und Wirkungsmechanismus nicht nur des Films, sondern der audiovisuellen Massenmedien überhaupt. Tabula rasa sui generis."

Herlinghaus, Hermann, Zwischen Exil, Widerstand und Avantgarde, in: Groschup, Wurm, 1991, S. 53

Durch diese Art der Montage oder besser »Demontage« wie sie Fernando Birri nannte, hat er versucht die Filmsprache zu revolutionieren, denn ohne der Revolution der Sprache gibt es keine dauerhafte Revolution. ORG ist ein Experiment, ein »Nicht-Film« der die Ideen und Utopien der 68er-Bewegung aufgreift und filmisch umsetzt.»

"In diesem Sinne bezeichne ich ORG als einen »Nicht-Film« das heißt, als »expérience« als Erfahrung, und er entspricht jenem Windstoß der Verrückheit, der die Welt 1968 ins Wanken brachte. Eine Welle der Verrückheit, in der Utopie und Negation Hand in Hand gingen, und in der wir uns viele Fragen stellten, die zum Teil heute noch unbeantw»rtet sind. Der Film entstand in einer Zeit zweier Krisen: einer Krise der Ideologien der Linken, deren Haltung ich immer vertreten habe, und auch einer Krise der Sprache des Kinos."

Groschup, Wurm, 1991, S. 150

Nicht nur für den Filmemacher ist ORG ein Experiment, sondern auch für den Zuschauer (nur für Verrückte), das heißt ein Experiment mit jedem einzelnen Zuschauer. Das Publikum wird nicht als »Masse« gesehen sondern als Vereinigung einzelner Zuschauer mit der Hoffnung auf Kommunikation.

"ORG will ein energetischer Film sein, in dem Sinne als es vorgibt, Energie zu enthalten, er will eine Art »Energiekontainer« sein und die übertragende und erhaltene Energie soll eine Lebenserfahrung für den sein, der den Film gemacht hat und den, der ihn sieht.

Besser ausgedrückt: Du weißt, daß in der Psychologie eine Erfahrung gemacht wird, die man die Rorschach-Flecken nennt, die man erhält, wenn man einige Tropfen Tinte auf ein Blatt Papier träufelt, das Blatt in der Mitte zusammenfaltet und -drückt, und wenn man es öffnet erscheint ein Fleck, in dem manche Leute verschiedene Dinge erkennen können. Wenn man fragt, »was sehen sie hier?« wird jemand sagen, »einen Schmetterling« Ein anderer wird über den selben Fleck sagen, »eine Fledermaus« und wieder ein anderer »einen Fleck« Der Film ist - beziehungsweise ich möchte dies erreichen - im Hinblick auf den Zuschauer ein bißchen wie ein Rorschach-Fleck, d.h. der Zuschauer soll den Film in sich selbst ergänzen und vor allem soll er mehr als den Film sich selbst im Film sehen. D.h. der Film soll eine Anregung - und warum nicht - eine Provokation sein, um den Zuschauer aktiv sich selbst gegenüberzustellen."

Kürner 1987, S. 99

Etwa 300 Protagonisten tauchen in ORG auf: Salvador Allende, Johann Sebastian Bach, Roland Barthes, Johannes der Täufer, die Beatles, Jorge Luis Borges, Hyronimus Bosch, ein Sioux-Indianer, Pieter Breughel, Sergio Leone, Cohn-Bendit, Jorge Sanjinés, Julio Cortázar, Salvador Dali, Catherine Diamant, Leonardo da Vinci, Giorgia de Negri, Charles de Gaulle, Alexander Dubcek, die Blume der Azteken, Albert Einstein, Federico Fellini, die Dokumentarfilmschule Santa Fé, Sigmund Freud, Glauber Rocha, Juri Gagarin, Dolorcito Gaitán, Josephine Baker, Gabriel García Márquez, Carlos Gardel, Hermann Hesse, Ernesto »Che« Guevara, John Lennon und Yoko Ono, King Kong, Hitler, Kodak, Ku Klux Clan, Paul Klee, Charles Lindberg, Lenin, Nikita Kruscov, Vladimir Majakowski, Thomas Mann, Mao Tse Tung, Mona Lisa, Raquel Welsh, Karl Marx, Homer, Marilyn Monroe, Richard Nixon, ein vietnamesisches Guerilla Kind, Aristoteles Onasis, Octavio Paz, Eva Perón, Stalin, Vivaldi, Trotzki, Walt Withman, ein schwarzer Hermaphrodit, Octavio Getino, der maskierte Mann, Donald Duck, Fermagorgh (Fernando Birri), Zigeuner in Santa Fé, tibetanische Mönche des Klosters Rumter, Mandrake, Sergeant Pepper's Lonely Hearts Club Band..., und darüber hinaus Aborteure, Automaten, Bettler, Skelette, Studenten, Kommunikationslose, hungrige Frauen, Streikende, Masochisten, Metallurgiker, Alchimisten, Radioaktive, Bauern und Beleidigte.

ORG ist letztendlich eine ideologische Fabel, ein Filmgedicht; nicht im Sinne eines Kinos über Poesie, sondern ein Filmgedicht, was ein vielfältiges Konzept beinhaltet. D.h. das Kino begreift sich selbst als Gedicht, nicht um über Dichtung zu sprechen, sondern um selbst Poesie zu machen.

Als Fernando Birri den Film beendete, verfaßte er mit seinen MitarbeiterInnen das Manifest: »Für ein kosmisches Kino des Deliriums und der Lumpen« und ORG ist der erste Beitrag dieses kosmischen Kinos des Delirums und der Lumpen.

Im Gesamtwerk von Fernando Birri nimmt der Nicht-Film ORG nicht nur aufgrund seiner ungewöhnlichen Produktionsdaten einen besonderen Platz ein.

"Zwischen den früheren Produktionen, TIRE DIE und LOS INUNADADOS, und den späteren Arbeiten, REMITENTE: NICARAGUA und MI HIJO EL CHE, nimmt ORG einen Platz ein, der mir wie ein Alptraum zwischen zwei Träumen mit offenen Augen erscheint. Die ersten zwei Werke versuchten wir mit offenen Augen zu träumen, ebenso die letzteren; der Film ORG jedoch ist ein Alptraum mit geschlossenen Augen, weil er zu den schrecklichsten Augenblicken meines Lebens zählt, zu meinem zweiten Exil, das sehr lange dauerte. Für mich war es ein »inneres Exil« das zu meinem äußeren hinzukam und noch dazu ein kinemathographisches Exil war."

Groschup, Wurm, 1991, S.150





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