"Nun hat LA VIDA ES SILBAR von Fernando Pérez das internationale Festival gewonnen, erkoren von Daniel Díaz Torres und anderen Juroren. Es ist der einzige cubanische Spielfilm, der dieses Jahr produziert wurde, und viele sagen, er sei der beste, der je auf der Insel gemacht worden ist. Der musikalistische cubanistische, surrealistische, eine zärtliche Liebeserklärung an Land und Leute. Der kritischste: Während andere cubanische Filme bereits die konkreten Ausformungen des Sozialismus kritisiert haben, zum Beispiel die Bürokratie wie GUANTANAMERA, wagt sich LA VIDA ES SILBAR, direkt an die Tabus der Revolution: Pérez thematisiert die sexuelle Doppelmoral, die Anti-Religiösität des Systems und die Stigmatisierung derer als Verräter, die das Land verlassen wollen. Diese Themen sind um so erstaunlicher, als daß der cubanische Staat Geldgeber gewesen ist für diesen vielfach verschlüsselten und gleichzeitig sehr klaren Film über die Suche nach Glück im heutigen Havanna.
Schnecken ohne Ende
Der Film erzählt die Geschichte von drei Menschen, die einmal auseinandergerissen worden sind. Jetzt versucht das Schicksal, sie wieder zusammenzuführen, aber es geht nicht ohne ihre Entscheidungen: Jede der drei Entscheidungen wird gegen eine ideologische Doppelmoral sein. Dabei wissen die Hauptpersonen anfangs gar nicht, wen sie in Wirklichkeit suchen. Da ist zum Beispiel Elpidio, der sonnenverbrannte Mann mit dem Rastaschopf.
Im Kino ist es unruhig. Als der seltsame Name Elpidio zum ersten Mal fällt, lachen die Zuschauer. Bis daher kannten sie den Namen nur aus Kinderfilmen, in denen die Zeichentrickfigur Elpidio Valdés für die Revolution kämpft, als eine Art cubanischer Supermann. Pérez' Elpidio mit den Rastas aber ist ein Außenseiter; er hat ein Herz auf die Schulter tätowiert, das den Satz umschließt und beschützt: »Es gibt keine größere Liebe als die der Mutter.« Die so Geliebte heißt Cuba, u nd vor Jahren ist sie verschwunden. »Cuba«, schreit Elpidio, »warum hast Du mich verlassen?« Die Mutter hat den Sohn verlassen, eine andere Mutter die Tochter. »Schnecken sind perfekte Wesen«, sagt ein gedankenvoller Schneckenliebhaber im Film, »weil sie in der Fremde leben können, ohne ihr Haus zu vermissen«. Leute werden ohnmächtig, wenn sie das Wort 'Liberdad' hören. Freiheit ist Einsamkeit. »Ich bin einsam«, sagt die Erzählerin, »einsam wie Havanna.«"
Anne Zielke
Vierzig Jahre Einsamkeit. Erdnüsse in Havanna: Cuba zwischen Filmfest und Revolutionsgeburtstag.
In: Süddeutsche Zeitung 2./3.1.1999
Last update: 18.1.2016