Fernando Perez

Seejungfrauen träumen besser Fernando Pérez' Film "Das Leben, ein Pfeifen"

Als Bebé ins Waisenhaus gebracht wird, trägt sie ein Kreuz. In ihrem sechsten Lebensjahr wird sie es verlieren - so herrisch zerrt eine Verwaltungsgenossin an der Kleinen, die der liebevollen Zuwendung ihrer Ersatzmutter Cuba wieder entrissen wird. Cuba Valdés Herz, verborgen in einem massigen, mit Feingefühl und Rhythmus überreich begabten Körper, hätte für das jüngste der Pflegekinder, die sie neben ihrem eigenen Sohn Elpidio aufzieht, ausreichend Platz. Ganz gleich, ob es Bebé beliebt, sich pfeifend zu verständigen. Aber ein Kind, das im Chor nicht "Gleichheit" schreien will, nicht Ja und Amen sagt zum Erziehungsprogramm der kubanischen Unterschiedsvernichter, wird nicht geduldet.

Was wäre, wenn die anderen sich an der kleinen Rebellin ein Beispiel nähmen? Dann hätte der kubanische Regisseur Fernando Pérez, der seinem bewegenden Film Das Leben, ein Pfeifen Bebés aufs revolutionär Schickliche pfeifende Verweigerung als Prolog vorangestellt hat, sein Ziel erreicht. Weil es dazu aber des Träumens bedarf, sehen wir die 18-jährige Bebé auf einer Kaimauer sitzen. Zu uns wird das Mädchen mit den vom Wünschen groß gewordenen Augen sprechen. "Ich bin allein", sagt sie, während im Hintergrund auf dem Malecón, Havannas doppelmoralischster Flaniermeile, das Leben an ihr vorbeigeht, "allein, aber harmonisch. Havanna ist auch allein, aber nicht so wie ich."

Jemand, der sich glücklich schätzt, das muß ein Fabelwesen sein. So wie Bebé fortan Schicksal spielen wird, mephistophelisch erhöht über Havannas miniaturisierter Pappmachéansicht, in luftiger Höhe als guter Geist eines den Prospero gebenden Regisseurs, im Meer als wundersam beredte Seejungfrau, ist sie mit dem magischen Realismus im Bunde, der in der Kunst Lateinamerikas, im Kino vor allem in den gesellschaftskritischen Komödien Kubas, politische Dogmen märchenhaft bannt. Stellvertretend für das Havanna des Jahres 2020 will Bebé drei Menschen glücklich sehen. Mit der elternlosen Tänzerin Mariana und dem herumstreunenden Musiker Elpidio Valdés, von Mutter Cuba als unwürdig gescholten und verlassen, ist sie aufgewachsen.

Aber warum fällt Bebés Feenblick auf die 40-jährige Julia? Doch nicht deswegen, weil die entsagungsvolle Altenpflegerin mit dem schönen, aber gleich ihren Haaren weggesteckten Gesicht gerade zum Vorbild aller Werktätigen erkoren wurde? Eher im Gegenteil. Julia ist von der Márquezschen Schlafkrankheit befallen, und wenn sie nicht gähnt, fällt sie in Ohnmacht, sobald jemand das Wort "Sex" ausspricht. Bei einem Psychoanalytiker, der grenzüberschreitend an seinem und Julias Glück arbeitet, erfährt Julia das Ausmaß ihrer Erkrankung: Halb Havanna fällt in Ohnmacht, wenn der entfesselte Psychoanalytiker in einer vor Energie und Glückseligkeit schier überbordenden Szene sein Wissen unter die Leute bringt und, "falsche Moral", "Opportunismus" und "Freiheit" herausschreiend, die ins Bodenlose abgleitende Reaktion der Verdrängung hervorruft.

Alle Lebenslinien, die Bebé zum Wohle Kubas und aller, die ihr Glück im Anderssein suchen, durchkreuzt, ineinanderflicht und zu guter Letzt im Traumpfade verwandelt, enden zunächst in pflichtbewusster, trotziger oder verklärter Freudlosigkeit. Die bildschöne Mariana, die Bebés Kreuz gefunden und den christlichen Gott zum gestrengen Ersatzvater erhoben hat, schwört ihrer Leidenschaft für die Lust ab, so sie an Havannas Staatstheater nur die Rolle der jungfräulich an gebrochenem Herzen sterbenden "Giselle" tanzen dürfe. Marianas Wunsch erfüllt sich. Dass es nicht ihr größter war, begreift die ätherische Erscheinung mit dem Kennerblick für muskulöse Männerhintern angesichts ihres zukünftigen Tanzpartners.

So überirdisch leicht wie sich Ismael bewegt - wie kann Mariana da ihr Gelübde halten? Elpidio wird zwischen Cuba, seiner mythisch zur Landesgöttin, zur Heimat stilisierten Mutter, und seiner amerikanischen geliebten Chrissy hin und her gerissen. Wie soll man da glücklich werden? Fernando Pérez hält es in seinem sinnenfreudig auf politische und filmische Konventionen pfeifenden Film mit der Wahrheit. Und wenn er damit auch die Möglichkeit einräumen muß, daß Bebé nur eine Tagträumerin ist.

Herausragend wie der Film sind auch die beiden Filmverleihe, die ihr Glück in der Förderung ebenso komplexer wie poetischer Filme suchen. In Deutschland wird der Film durch den mittlerweile vielfach prämierten Pegasos Filmverleih vertreten, in der Schweiz durch den legendären, auf Afrika, Asien und Lateinamerika spezialisierten Trigon-Verleih. Besonders erwähnt sei das trigon-film magazin nr. 7, das diesmal dem kubanischen Filmschaffen, schwerpunkthaft einer kenntnisreichen und emphatischen Analyse von Das Leben, ein Pfeifen gewidmet ist. Zu beziehen unter: trigon-film, Postfach, CH-5430 Wettingen 1.

Heike Kühn
in: Frankfurter Rundschau 21.1.2000


Fernando Perez

Last update: 18.1.2016