"Bereits der Trailer für «La vida es silbar» ist ziemlich ungewöhnlich:
Mit einem einzigen Wort, dem Schrei «Cuba!», wird diese Produktion des
staatlichen kubanischen Filminstituts ICAIC verbal präsentiert. Der
Protagonist Elpidio schreit es in einer ungemein pathetischen Szene
heraus - im strömenden Regen auf dem Pflaster einer ärmlichen Gasse im
Zentrum Havannas kniend. Der Entscheid des ICAIC, für den Trailer
sonst ganz auf die Kraft und den Rhythmus der Bilder und der Musik in
«La vida es silbar» (Das Leben ist Pfeifen) zu vertrauen, ist
verständlich. Fernando Pérez' neuer Film überzeugt nämlich zuallererst
einmal durch die Meisterschaft der Photographie von Raúl Pérez Ureta
und durch eine Musikalität, wie sie schon seit längerer Zeit in keinem
lateinamerikanischen Film mehr zu finden war.
Sonst wird in diesem Filmmärchen nicht wenig gesprochen. Ganz im
Gegenteil: Elpidio (Luis Alberto García), Mariana (Claudia Rojas) und
Julia (Coralia Veloz) haben einiges zu sagen in ihren drei parallel
nebeneinander laufenden Geschichten aus dem heutigen Havanna, die
durch die gute Fee Bébé (Ana Victoria Pérez) kunstvoll miteinander
versponnen werden. Elpidio, Musiker und Anhänger der afrokubanischen
Santeria-Religion, schlägt sich als Fischer und Schnorrer an Havannas
Uferpromenade Malecon durchs Leben. Er leidet daran, dass er als Kind
von seiner Mutter Cuba (!) verstossen worden ist, weil er sich nicht
nach ihren Vorstellungen entwickelte; seither lebt er in der Erwartung
auf ein Zeichen von ihr. Statt seiner Mutter trifft er indessen auf
die ausländische Biologin Chrissy, die mit einem Heissluftballon in
Havanna landet.
Mariana, die Ballettänzerin, die - wie Elpidio, Bébé und Julia - im
Waisenhaus aufwuchs, ist eine lebenslustige junge Frau. Sie arbeitet
mit grosser Besessenheit an ihrer Karriere und träumt davon, einmal
die Rolle der «Giselle» tanzen zu können. Um dieses Ziel zu erreichen,
legt sie ein religiöses Gelübde auf sexuelle Enthaltsamkeit ab,
verbietet sich die Liebe zu ihrem Tanzpartner Ismael und stürzt in
eine tiefe Krise. Julia, aufopfernde Pflegerin in einem Altersheim,
leidet unter unerklärlichen Gähnanfällen und fällt jedesmal in
Ohnmacht, wenn sie das Wort Sex hört. Eine Arbeitskollegin überredet
sie zu einer Therapie beim Psychiater Fernando, der ihr bei der
Aufarbeitung eines Adoleszenztraumas hilft. Ausserdem tröstet er sie
damit, dass es sich bei ihrem Leiden um ein weitverbreitetes Symptom
handle: Andere Leute fallen nämlich in Ohnmacht, wenn sie Worte wie
Freiheit, Opportunismus oder Doppelmoral hören.
Am Schluss des Films treffen diese drei Hauptfiguren auf Havannas
Revolutionsplatz zufällig aufeinander - und beginnen zu pfeifen. Und
als ob der Metaphern und politischen Anspielungen nicht schon genug
wären, ist das schräge Dreiergespann darüber hinaus von einer Reihe
weiterer absonderlicher Figuren umgeben. Neben der schon erwähnten Fee
Bébé, die den Menschen das Glück per Dekret verordnen will, gehört
dazu etwa ein Rikscha-Taxi-Fahrer, der eine seltsame Passion für
Schnecken hegt: perfekte Tiere, weil sie als einzige im Ausland leben
können, ohne Heimweh zu verspüren; sie haben ja ihr Haus dabei.
Über den Film, der seine Premiere am vergangenen lateinamerikanischen
Filmfestival in Havanna erlebte, höhnte damals der Filmkritiker von
«Granma», der kubanischen Parteizeitung, er sei dermassen mit
Metaphern überladen, dass man den Zuschauerinnen und Zuschauern am
Kinoeingang am besten ein Dechiffriergerät aushändigen würde. Der
Spott nützte nichts, das einheimische Publikum, die internationale
Jury (die den Film mit Preisen geradezu überhäufte), die kubanischen
Cineasten sowie zahlreiche Festivals in aller Welt haben Fernando
Pérez' Werk seither begeistert gefeiert und sich ob der Metaphernfülle
gefreut. «La vida es silbar», der sich jeder eindimensionalen Deutung
konsequent verweigert, thematisiert - trotz seinen surrealistischen
Höhenflügen, die an die besten Momente in den Filmen der Argentinier
Eliseo Subiela und Fernando Solanas erinnern - ein uraltes Thema: die
Suche nach dem Glück im Leben. Gleichzeitig ist der Film ein Aufruf zu
Toleranz und zu Respekt vor dem Anderssein des Mitmenschen. Damit
erweist Fernando Pérez seinem einstigen Mentor und Lehrmeister, dem
1996 verstorbenen Tomás Gutiérrez Alea, eine würdige Hommage.
Geri Krebs
In: Neue Züricher Zeitung 5.11.1999
Last update: 18.1.2016