"Vor dem Capitol in Havanna fallen die Menschen ohnmächtig zu Boden, wenn sie Worte hören wie Freiheit, Sex, Ehrlichkeit. Ein Taxifahrer weiß um die Verstrickungen im Leben und steht am rechten Ort zur rechten Zeit, bis zu dem Moment, wo sich das Schicksal am Platz der Revolution erfüllen soll. Denn dann funktioniert nichts mehr, die Transportprobleme Havannas verdichten sich zur Unmöglichkeit. »In meinem Film geht es um Absurdität, Unmögliches und Zufälle«, erzählt Fernando Pérez, Regisseur von LA VIDA ES SILBAR (DAS LEBEN IST EIN PFEIFEN). Seit 1995 arbeitet der Regisseur von MADAGASCAR und HELLO HEMINGWAY an diesem Projekt. Der Arbeitstitel war zunächst EL DÍA EL PAPA LLEGÓ A CUBA (DER TAG AN DEM DER PAPST NACH KUBA KAM). »Das erschien damals noch als völlig unmöglich und absurd. Aber sechs Monate später wurde es plötzlich wahr, und ich änderte den Titel und diesen Teil der Geschichte.« Offensichtlich hat ihm die Verbindung Glück gebracht: »Genau in der Zeit, als der Papst in Kuba war, bekam ich den Sundance-Preis, ohne den ich den Film gar nicht hätte realisieren können. Als ich für mein nächstes Projekt nach Saint Louis fuhr, war auch wieder gerade der Papst da - vielleicht bringt mir das ja Glück ... «
LA VIDA ES SILBAR ist eine Liebeserklärung an Kuba, an Havanna, an das Leben. Die Protagonisten sind Waisen auf der Suche nach ihrer Identität, was eine beliebte Metapher des lateinamerikanischen Films (etwa auch in Walter Salles CENTRAL DO BRASIL) ist, und so sieht Pérez seinen Film auch als eine allgemeingültige Fabel über den kubanischen Kontext hinaus: »Natürlich geht es in meinem Film erst einmal um unsere sehr komplexen, sehr widersprüchlichen kubanischen Probleme am Ende diese Jahrhunderts. Aber im weiteren Sinne geht es doch um den Menschen an sich. Ich glaube heutzutage sind wir alle auf irgendeine Art Waisenkinder, etwas fehlt uns, um unsere Leere auszufüllen, und das ist die Metapher, die der Film aufgreift.« Die Hauptfiguren leben in dieser Leere, sind auf der Suche nach dem Glück in Havanna, dem brodelnden Mikrokosmos der Unmöglichkeiten. Nur Bebé ist glücklich, wurde sie doch bereits als Kind aus der Gemeinschaft ausgeschlossen: weil sie immer nur pfeifen und niemals sprechen wollte. Sie erzählt aus dem Wasser des Ozeans heraus die Geschichte ihrer Freunde und schildert die Verkettung der Umstände: Julia, eine verdiente Altenpflegerin mit zahlreichen staatlichen Auszeichnungen leidet an unkontrolliertem Gähnen sowie an geheimnisvollen Ohnmachtsanfällen, sobald das Wort `Sex' benutzt wird. Ein lebenslustiger Musiker, der Mulatte, Elpidio, fühlt sich schuldig, weil ihn seine Adoptivmutter Cuba verstoßen hat, da er ihren hohen moralischen Ansprüchen nicht genügte. Mariana, die Tänzerin, hat ewige Keuschheit geschworen, wenn ihr Traum erfüllt würde, im staatliche Ballett die Giselle zu tanzen. Havanna fungiert in diesem Spiel als Ort magischer Gleichzeitigkeit: Den Kindern wurde noch das Wort 'Gleichheit' eingetrichtert, die Alten im Schaukelstuhl wippen dagegen im senilen Gleichtakt, während sie mit Eßlöffeln gefüttert werden. Am Malecón, der wellenumschäumten Uferpromenade, lernt Elpidio die blonde, kurzgeschorene Chrissy kennen. Eine Meeresbiologin, die mit dem Greenpeace-Heißluftballon nach Havanna kam. Jetzt muß der Musiker zwischen Mutter Cuba und Chrissy entscheiden. Am Ende stehen die drei Protagonisten vor dem großen Monument auf dem Revolutionsplatz in Havanna: jeder hat sich konsequent für seinen Traum entschieden . und jeder ist zu spät gekommen. Pérez möchte Havanna so filmen, wie Magritte malt, und tatsächlich hat er die politische und soziale Realität der sozialistischen Insel in einen Fluß poetischer Metaphern umgesetzt."
Wolfgang Martin Hamdorf: Last update: 18.1.2016
In: Filmdienst , Nr. 6 1999, S. 45-46