Fernando Perez

Pfeifend durch die Schlaglöcher.
Das 20. Festival des Neuen Lateinamerikanischen Films' in Havanna.

"Es geht ein Phänomen um in Havanna. In den Patios der Altstadt und im Foyer der Nationaltheaters. In den Schlangen vor den Lebensmittelläden und auf den Rücksitzen der Taxis. An der Strandpromenade, dem Malecón. Da, wo Liebespaare wie die Vögel auf der Stange sitzen und sich von niemanden stören lassen, sinken plötzlich Leute in Ohnmacht, wenn bestimmte Reizworte an ihre Ohren dringen: Zum Beispiel 'Freiheit'. Oder 'Doppelmoral'. Der Altenpflegerin Julia wird immer beim Wort 'Sex' schwindelig. Der Ballettänzerin Mariana, die sonst die Männer mit den Augen auszieht, verschlägt eine unverhoffte Begegnung den Atem. Und Elpidio, der bisher immer nur von einem Tag auf den anderen gelebt hat, fällt plötzlich die große Liebe fast buchstäblich auf den Kopf: eine stoppelhaarige Gringa in einem Heißlufballon. Genauso schnell, wie sie gekommen ist, ist sie allerdings auch wieder entschwunden.

In Fernando Pérez' LA VIDA ES SILBAR (DAS LEBEN IST PFEIFEN) - dem kubanischen Wettbewerbsbeitrag auf dem Festival des Neuen Lateinamerikanischen Films in Havanna - sind kaum zu trennen: die Sehnsucht nach der Wahrheit und die Panik davor, die Suche nach dem Glück und die Furcht davor. Frei nach dem John Lennon-Zitat 'Das Leben geht vorbei, während du damit beschäftigt bist, andere Dinge zu erledigen' laufen und taumeln die Hauptfiguren durch Havanna. Wenn sie glauben, unmittelbar vor dem Ziel zu sein, ist das Objekt der Begierde schon wieder um die nächste Ecke gebogen. Auch Pérez' (MADAGASCAR) von Symbolen übersprudelnde Bildsprache entzieht sich immer in letzter Sekunde simplen Deutungszugriffen. Das gilt auch für die politische Metaphorik, die - trotz zahlloser Anspielungen und Seitenhiebe auf die Situation in Kuba - immer wieder die Kurve ins Philosophische kriegt. Die Gedanken sind frei. »Ich möchte, daß man mich pfeifen läßt« erklärte Pérez schlicht und vielsagend auf der Pressekonferenz.

Auf dem Festival, das vom 1. bis 11. Dezember stattfand, wurde DAS LEBEN IST PFEIFEN von der internationalen Jury mit Preisen geradezu überhäuft. 'Premio Coral' für den besten Film, die beste Regie und die beste Kamera. So ergab sich bei den Festspielen, die dieses Jahr ihr 20. Jubiläum feierten, eine scheinbar paradoxe Situation: Einerseits liegt die Filmproduktion des Gastgeberlandes seit Jahren, aufgrund der Wirtschaftskrise, fast vollständig am Boden. Das LEBEN IST EIN PFEIFEN war 1998 der einzige abendfüllende Spielfilm, der ohne ausländische Beteiligung entstehen konnte. Gleichzeitig sind sein subversiver Humor und sein Optimismus der beste Beleg für die Vitalität des kubanischen Films. »Die Krise des kubanischen Films ist eine ökonomische, keine kreative«, meint der Regisseur Daniel Díaz Torres, der dieses Jahr in der Jury saß, selbstbewußt."

Bettina Bremme
In: Lateinamerika Nachrichten , Nr. 296, Februar 1999, S. 36-40

Fernando Perez

Last update: 18.1.2016