Tomás Gutiérrez Alea | Biographie | Filmographie | Interviews
Über Leben und Überleben - Fünf Antworten "1. Ich begann meine professionelle Filmarbeit mit dem Abdrehen von Witzen
für CINEREVISTA (ich machte auch kleine Werbespots und sehr einfache Reportagen
oder Dokumentarstreifen). Der Arbeitsrythmus (...) zwang uns zu einer beständigen
Übung im Erfinden von Filmhumor. Selbst innerhalb des engen Rahmens, in
dem wir unsere Arbeit abwickeln konnten, stellte jene Etappe ein gewiß
gute Schule dar, weil sie uns dazu zwang sich in gewisser Unbefangenheit
mit unserer ersten Komödie (DIE ZWÖLF STÜHLE)
auseinanderzusetzen. Dabei hatten wir damals nur geringe Mittel zur
Verfügung und wenig Erfahrung. Wenn in DIE ÜBERLEBENDEN der Humor mehr
oder weniger 'schwarz' ist ,beruht das meiner Meinung nach auf einer persönlichen
Meinung, obwohl unsere spanischen Vorfahren augenscheinlich sehr viel damit
zu tun haben. Es gibt eine ganze kulturelle Tendenz in diese Richtung,
die offen seit dem spanischen Schelmenroman zutage tritt und die wir in
gewisser Weise erbten. Der Humor ist ein Ausdrucksmittel, das sehr widersprüchliche
Wirkung haben kann. Er kann dazu dienen, lächerlich zu machen, aber auch
zu begeistern. Er kann im Dienste der Verweigerung, aber auch der Bestätigung
stehen. Er kann ein Fluchtvehikel sein, aber auch zum Anreiz für eine kritische
Haltung dienen, um im Sinne Brechts 'Distanz zu gewinnen'. Außer der Erleichterung
der Kommunikation stellt er einen Brechungsfaktor dar, demgegenüber alle
Schemata ins Wanken geraten, in denen wir uns manchmal ohne Wissen um die
Gründe bewegen. Der Humor kann etwas sehr Ernstes werden, wenn er der lächerlichen
Feierlichkeit eini-ger Richter gegenübertritt ... Wie du siehst, gibt es
genügend Gründe, ihn interessant erscheinen zu lassen. Im speziellen Fall
von DIE ÜBERLEBENDEN schien es uns, daß der ätzende Humor, mit dem wir
die Verwicklung dieser Familie darstellen können, ein gutes Mittel war,
die Absurdität der Werte dieser Familie in ihrem Kampf ums Überleben inmitten
der Revolution aufzuzeigen. 2. Diese Thematik schlug ich schon seit DIE ZWÖLF STÜHLE
an. Uns interessiert natürlich nicht einfach die Dekadenz einer Klasse.
Am wichtigsten ist in den ERINNERUNGEN AN DIE UNTERENTWICKLUNG
und in DIE ÜBERLEBENDEN das Überleben der bürgerlichen Werte inmitten der
Revolution. Meiner Meinung nach ist das ein wirklich bedeutsames Thema,
weil man sich nicht immer dieses Phänomens bewußt ist. Beide Filme möchten
auf verschiedene Wegen die Aufmerksamkeit auf dieses Problem lenken. 3. Die Religion für sich genommen, ist nicht das große Problem, denn sie
ist kein Grund, sondern eine Folge der historischen Unzulänglichkeiten
des materiellen Produktionsprozesses. Sie wird an dem Tag eines natürlichen
Todes sterben, an dem diese Entwicklung sich voll in die Herrschaft des
Menschen über sich selbst, über seine sozialen Beziehungen und über die
Natur einbringt. Das einzige, was sich wirksam dem religiösen Geist entgegenstellt,
ist die Entwicklung des wissenschaftlichen Intellektes. Die Religion verliert
selbstverständlich schon dort an Gewicht, wo sich eine gerechtere Gesellschaft
etabliert. Solange jedoch nicht vollständig die Entstehungsursachen verschwinden,
zeigt sich das religiöse Gefühl starrköpfig und trügerisch. Es ist nicht
verwunderlich, daß es uns dort in weltlicher Verkleidung entgegentritt,
wo wir es am wenigsten vermuten. Das ist schon besorgniserregender, weil
es schwieriger zu enthüllen ist. Was mich in Wirklichkeit immer interessiert
hat, ist das Problem, wie der religiöse Geist in jeder nur möglichen Form
instrumentalisiert wird, um eine Klasse zu unterwerfen und auf jeden Fall
die Entwicklung der Gesellschaft zu bremsen. Wenn wir verschiedentlich
auf dieses Problem angespielt haben, gingen wir von der katholischen Religion
aus, weil sie in unserer Nähe ist und weil man in ihren Beziehungen zur
Bourgeoisie deutlicher diese Mechanismen aufzeigen kann, die unweigerlich
zur Heuchelei und zur Lüge führen. In dem Film DAS
LETZTE ABENDMAHL (1976) ist dieser Gedanke direkt aufgenommen. Auch
in dem Film DIE ÜBERLEBENDEN spiele ich darauf an, aber dort ist es nur
eine Angabe mehr, die uns für das Panorama der bürgerlichen Welt hilfreich
erscheint. 4. Die Notwendigkeit einer Gestalt wie Julio In DIE ÜBERLEBENDEN mit Merkmalen,
die er mit Sergio aus ERINNERUNGEN AN DIE UNTERENTWICKLUNG
gemeinsam hat, beruht auf der Tatsache, daß es sich um eine typische
Figur in einem Augenblick der Dekadenz handelt. Julio birgt die Werte seiner
Klasse in sich, aber gleichzeitig weist er dies Werte von sich. Er ist
eine klarsichtige Gestalt, weil er sich der Tatsache bewußt ist, daß seine
Anwesenheit ihn gegen den Strich der Gesellschaft gehen läßt. Aber es ist
wichtig, der Welt und seine Interessen zu entsagen und in Übereinstimmung
mit seiner Vernunft zu handeln. Dieser Prozeß ist voller Widersprüche und
Dramatik. Julios Entwurzelung läßt ihn zum Alkohol Zuflucht nehmen, so
wie Sergio Trost bei den Frauen fand. Aus der Handlungsperspektive können
wir die Funktion dieser Gestalt folgendermaßen sehen: Er ist gleichzeitig
ein Zeuge und Teilnehmer seiner Umwelt. In diesem Sinne wirft er Licht
auf die Ereignisse, weil er sie uns aus einem anderen Blickwinkel sehen
läßt. Er ist meiner Meinung nach eine Schüsselfigur für das Verständnis
des Films. 5. Ich glaube, daß das Thema und das Ziel, daß wir uns gesetzt haben, die
Koexistenz des Tragischen oder des Dramatischen mit dem Komischen voraussetzt.
Der daraus resultierende Stil sollte es uns erlauben, daß wir uns auf organische
Weise zwischen diesen beiden Polen bewegen. Meiner Meinung nach ist der
Tonwechsel zwischen dem Filmanfang und -ende als progressiv einzuschätzen.
Er wird durch die Notwendigkeit der dramatischen Entwicklung bestimmt,
die mit den Spielregeln von Anfang an in Übereinstimmung steht. Ich glaube,
daß der Film gegen Ende das Tragische und das Komische integriert. Dieser
Zusammenprall ist für mich besonders interessant, weil er das Absurde auf
dieser Welt inmitten der Revolution enthüllt." last update 29.1.2016
Graphik: Uwe Krupka
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LOS SOBREVIVIENTES
DIE ÜBERLEBENDEN
Tomás Gutiérrez Alea, Cuba, 1978
130 Min., Spielfilm, ICAIC, Farbe, 35 mm