Fünf Tage brauchte der Chefkritiker der kubanischen Parteizeitung Granma, um im Rahmen seiner täglichen Festivalberichterstattung ein gewundenes Verdikt auszusprechen über Hacerse el Sueco von Daniel Díaz Torres, den einzigen neuen kubanischen Spielfilm des Festivals. Der Filmtitel enthält ein Wortspiel: die Sinn gemäße Übersetzung lautet Sich dumm stellen, während die wörtliche Sich zum Schweden machen heißt. Mit dieser Doppeldeutigkeit spielt der Film, wenn Björn (gespielt vom deutschen Schauspieler Peter Lohmeyer) sich in Havanna als schwedischer Literaturprofessor, der vor Ort die Besonderheiten der kubanischen Alltagssprache erforschen will, ausgibt. Björn aber ist weder Schwede noch Professor, sondern ein deutscher Krimineller, der nach Havanna gekommen ist, um im Schutz seiner Legende ungestört Raubüberfälle begehen zu können. »Björns« kubanisches Umfeld - allen voran der pensionierte Polizist Amancio, in dessen ärmlicher Wohnung der Deutsche ein Zimmer gemietet hat - merkt zwar bald, dass etwas faul ist an dem seltsamen Gast. Allenthalben tut man aber fleißig so, als würde man nichts merken. Man stellt sich dumm - schließlich ist im Kuba der Gegenwart mit seiner Mangelwirtschaft die Präsenz eines Ausländers im Haus immer noch eine der besten Möglichkeiten, um ökonomisch über die Runden zu kommen.
Der erwähnte Kritiker gestand Hacerse el Sueco zwar zu, dass; "wir Kubaner Spezialisten sind in der Kunst, über uns selber zu lachen", und lobte, dass dieser Film jede Menge Lacher produziere. Zu bemängeln hatte er jedoch die geringe Wahrscheinlichkeit der Handlungsanlage und forderte, es sollten doch endlich einmal ernsthafte Filme über Kubas Realität geschaffen werden . Bezüglich der Lacher ist dem Parteijournalisten sicher zuzustimmen. An dem Tag, als Hacerse el Sueco rund um die Uhr in Havannas größtem und populärstem Kino lief, raste der 1800 Personen fassende Saal vor Begeisterung. Die überfüllten Vorstellungen nahmen mit ihrem nicht enden wollenden Applaus fast Volksfestcharakter an. Es sind Momente wie dieser, die auf die ausländischen Besucher des Festivals einen besonderen Reiz ausüben. Sie zeigen eine Kinobegeisterung des einheimischen Publikums, von der andernorts nur geträumt wird. Natürlich hat die zuweilen gar in Hysterie umschlagende Begeisterung auch mit dem ärmlichen Kinoprogramm während des restlichen Jahres zu tun. Die Kubaner halten es hier ähnlich wie mit dem Essen: Wenn innerhalb von elf Tagen über 400 Filme gezeigt werden, 50 davon neue lateinamerikanische Spielfilme im Wettbewerb, wird begeistert zugegriffen. Als ausländischer Berichterstatter mit dem guten Vorsatz, Tendenzen aufzuzeigen und Strömungen zu orten, läuft man dagegen stets Gefahr, den Überblick zu verlieren. Dies umso mehr, als in diesen Dezembertagen das kulturelle Leben in der kubanischen Metropole förmlich zu explodieren drohte. Gleichzeitig zum Filmfestival verlieh das kubanische TV den Premio Lukas, den Preis für den besten Musik-Videoclip, außerdem fand in zahlreichen Theatern der Stadt das renommierte internationale Jazzfestival statt. Und als ob dem noch nicht genug wäre, enthüllte der Comandante höchstpersönlich in einem Park von Havanna am 8.Dezember ein Denkmal zum 20. Todestag von John Lennon - natürlich ebenfalls umrahmt von mehreren Konzerten prominenter kubanischer Musikgrößen.
Gewissermaßen als Gruß von der kulturellen Konkurrenz präsentierte am Eröffnungsabend des Jazzfestivals die spanische Autoren- und Verlegervereinigung, die das Filmfestival in diesem Jahr finanziell kräftig unterstützte, den Jazzfilm Calle 54 des Spaniers Fernando Trueba. Die Vorführung dieser berauschend schön fotografierten persönlichen Liebeserklärung an den Latin-Jazz geriet denn fast selber zum Konzert-Event: Standing Ovations bei einigen Soli der beteiligten Musiker, am meisten bei Tito Puente, dem im vergangenen Juni verstorbenen puertoricanischen Timbalero und Orchesterleiter. Diese Aufnahmen dokumentieren den letzten auf Film verewigten Auftritt dieser wichtigen Vaterfigur von Salsa und Latin-Jazz. Der Enthusiasmus des einheimischen Publikums zeigte in solchen Momenten nur zu gut, wie sehr man sich in Kuba der Zugehörigkeit zu einer einzigen afrokaribischen und afroamerikanischen Musikkultur sehr wohl bewusst ist - über alle politischen und ideologischen Grenzen hinweg.
Soweit es möglich war, sich über den lateinamerikanischen Wettbewerb der Spielfilme einen Überblick zu verschaffen, fiel vor allem der qualitative Höhenflug des mexikanischen Kinos sowie die vergleichsweise starke Präsenz chilenischer Filme auf. Die Filmproduktion beider Länder erlebt zur Zeit einen Boom, wie es ihn in den vergangenen Jahrzehnten nicht gegeben hat.
Eine Überraschung stellte schließlich der mit dem großen Preis des Festivals ausgezeichnete brasilianische Film Eu, tu, eles (Ich, du, sie) des 30jährigen Regisseurs Andrucha Waddington dar. Die unglaubliche Geschichte von der jungen, selbstbewussten Darlene, die in einem Kaff im brasilianischen Nordosten mit ihren zwei Kindern und drei Ehemännern glücklich zusammenlebt, ist von einer Frische und Frechheit, wie man sie so locker und selbstverständlich selten im zeitgenössischen Kino zu sehen bekommt - und schon gar nicht aus einem südamerikanischen Land erwarten würde.
Genau das Gegenteil dieser charmanten Komödie war schließlich der viel diskutierte und mehrfach ausgezeichnete Erstlingsfilm Amores Perros (Hunde und Liebesgeschichten) des Mexikaners Alejandro González Iñárritu: Ein fast dreistündiges, unglaublich gewalttätiges und gleichzeitig ungemein kunstvoll erzähltes, faszinierendes Stück Kino, das einen mit der geballten Wucht seiner Bilder und dem exzessiven Einsatz von Rock- und Technorhythmen fast erschlug. Trainspotting, La haine und Reservoir Dogs nannte ein Kritiker als filmische Referenzpunkte und bezeichnete Amores perros als wichtigsten mexikanischen Film der letzten zehn Jahre, was nicht übertrieben sein muss, denn Amores perros ist großes Kino.
Diese Qualifizierung gilt schließlich auch für einen ganz anders gearteten Film aus einem Land, das seit langem eigentlich ein weißer Fleck auf der filmischen Weltkarte ist: Chile. Coronación (Krönung) des 56jaehrigen Silvio Caiozzi ist ein stiller, langsamer Film über den Verfall eines vereinsamten Großbürgers, dessen Leben aus den Fugen gerät. Caiozzi, der es als praktisch einziger chilenischer Filmregisseur geschafft hatte, während der Pinochet-Diktatur unter größten Schwierigkeiten zwei Filme zu realisieren, versteht Coronación als Parabel über den Verfall der chilenischen Bourgeoisie. Verglichen mit Amores perros ist Coronación ein abgeklärtes, reifes Werk eines erfahrenen Regisseurs, der es versteht, eine Handlung ganz ins Innere der Figuren zu verlegen. Beide Filme zeigen jedoch ein lateinamerikanisches Kino, das, mehr als in den letzten Jahren, sich weiter entwickelt.