Das 22. Festival des Neuen Lateinamerikanischen Kinos in Havanna hatte noch nicht begonnen, da war der Hauptdarsteller schon im Bild. Er spielt in seinem Land eine Lebensrolle und trägt dabei seit 41 Jahren das gleiche Kostüm, eine olivgrüne Uniform. Im Teatro Karl Marx, einer schon etwas mitgenommenen Großbühne im Diplomatenviertel Miramar, sollte der ockerfarbene Samtvorhang gerade dem argentinisch-spanischen Eröffnungswerk Nueces para el amor (Nüsse für die Liebe) weichen, da erhob sich das Publikum und applaudierte: Der Comandante en Jefe war eingetroffen.
Fidel Castro mischt sich gerne unters Volk, in diesen Tagen hat er auch dem heimgeholten Flüchtlingskind Elian zum Geburtstag gratuliert, eine Parkbank für John Lennon eingeweiht und den russischen Präsidenten Vladimir Putin empfangen. Vor allem ist der Mann ja Cubas oberster Regisseur, Produzent, Drehbuchschreiber. Ist seine Inszenierung trotz aller Konkurrenz bei diesem wunderbaren Cineastentreff nicht immer wieder die verwirrendste, komischste und auch traurigste? Hat nicht seine Revolution dafür gesorgt, dass die Cubaner die Traumwelt des Kinos so lieben und Ausländer staunen über die surreale Wirklichkeit vor der Tür?
Besucher sind immer wieder aufs Neue fasziniert von dieser einzigartigen Kombination aus spanischem Kolonialerbe, USA der 50er Jahre und tropischem Realsozialismus mit sowjetischer Vergangenheit. Es ist wie ein Film, der beständig zwischen Schwarzweiß und Farbe wechselt, 90 Meilen südlich von McDonalds und Hollywood. Dass in den stets tiefgekühlten Festspielkinos wie Yara oder Payret die Farbe von den Wänden blättert und die Sitze wackeln, das gehört zum Ambiente wie die zerbeulten Buicks und Lincolns und die zerfressenen Fassaden an der Uferpromenade Malecon.
Die Kulisse! Die Altstadt wird restauriert, es gibt dort jetzt stilvolle Hotels und Bars für Touristen. Gleich um die Ecke ist es nach wie vor der Verfall, den die einen charmant finden und die anderen deprimierend. Buena Vista Social Club von Wim Wenders lockte seine Zuschauer nicht allein wegen der schönen Musik und der alten Männern an den Drehort, sondern auch wegen der morschen Mauern; das will man sehen, solange Castro noch lebt. In den bezaubernden Räumen des Klassikers Erdbeer und Schokolade des verstorbenen Tomas Gutierrez Alea residiert seit einigen Jahren sogar das berühmteste Privatrestaurant Havannas. Diesmal rückte ein Hinterhof ins Zentrum, und es ist kein Zufall, dass er eine Komödie beherbergt und einen Ausländer.
Hacerse el sueco nennt sich die kubanisch-spanisch-deutsche Coproduktion des Regisseurs Daniel Diaz Torres, das wichtigste Großprojekt der Gastgeber. Wörtlich bedeutet das sich zum Schweden machen, übertragen den Dummen spielen, was in diesem Fall Peter Lohmeyer tut. Der gibt den vermeintlichen Björn aus Göteborg, der sich als Literaturprofessor auf Studienreise ausgibt. Mutter und Tochter auf Kundenfang am Flughafen Jose Marti packen den blonden Devisenbringer ins vorrevolutionäre Chevrolet-Cabrio und räumen daheim das Dachzimmer, der nette Gast zahlt sogar im Voraus. Ein Untermieter, wie ihn sich auf Cuba viele wünschen. Selbst Papa Amancio, herzkranker Polizist und Revolutionskämpfer im Vorruhestand, freundet sich nach ersten Zweifeln mit dem Fremden an. Tochter Alicia ist entzückt, sie bekommt von Björn obendrein ein Geburtstagsgeschenk, Pippi Langstrumpf im Schuber. Wer würde hinter einem derart reizenden Menschen den Verbrecher vermuten, der im sonst so sicheren Havanna neuerdings Touristen und Taxifahrer überfällt? Den Einbrecher, der schließlich mit Pippi-Langstrumpf-Maske die schwedischen Juwelen aus dem Museum klaut, das Amancio bewacht?
Die Cubageschichte des Björn Holm ist Satire, für Uneingeweihte oft Klamauk. Die Cubaner fühlen sich darin wie zu Hause. Das Chaos im Hinterhof, der giftorange Brausedrink oder die ewigen Lockenwickler sind auch im richtigen Leben Routine. Des Weiteren lernt man, dass cubanischer Brotteig auf Wachkameras klebt und cubanische Kroketten den Wachhunden schmecken. Und am Ende wird alles gut. Der Schwede wird enttarnt, von Amancio trotz Autopanne am Flughafen gestellt und zeigt sich als reumütiger Deutscher namens Otto. Zum Schluss heiratet er die Tochter, wie das Ausländer in Havanna eben manchmal so machen.
Ein bisschen Selbstironie, mehr nicht. Erdbeer und Schokolade, Preisträger 1993, war trotz bescheidener Mittel eine kleine Sensation, denn seine Figur des schwulen Regimegegners brach gleich zwei Tabus. Sich zum Schweden machen ist so harmlos nett wie Warteliste von Gutierrez Partner Juan Carlos Tabio; Diaz Torres hat sich schon einmal mit Alicia im Land der Wunder die Finger verbrannt. Cubas Filmemachern geht es trotz relativer Freiheiten und staatlicher Förderung wie den meisten ihrer Landsleute: Sie haben wenig Geld, viel Phantasie und noch mehr Humor, und sie rütteln nicht unbedingt an den Grundfesten des Systems.
Außerdem ist die Welt drumherum oft nicht besser, im Gegenteil. Es ging schon los mit dem Film Nueces para el amor, der mit dem zweiten Preis ausgezeichnet wurde. Er erzählt von einer Beziehung, die von der argentinischen Militärdiktatur zerrissen wird, ehe sie im demokratischen Buenos Aires wieder zusammenfindet. Oder Caracas, amor y muerte (Liebe und Tod), wo ein junger Arzt für und ein junger Priester gegen die Abtreibung eines Babys kämpfen, dessen Vater ein Killer ist. Oder die mexikanischen Meisterstücke Amores Perros (Hundelieben) oder La ley de Herodes (Das Gesetz des Herodes), letzteres veralbert die Revolutionspartei PRI, die gerade nach 71 Jahren abdanken musste. Es geht um Liebe, aber noch mehr geht es um Gewalt, Armut, Korruption. Motive Lateinamerikas.
Man kann sich auch für fünf Dollar mit einem klapprigen Lada zum Kino XI. Festival nach Alamar chauffieren lassen, der Plattenbausiedlung im Osten. Das Ziel liegt am Ende einer Straße mit wenig Licht und vielen Schlaglöchern. Gegeben wird Plata Quemada (Verbranntes Geld), ein melancholisches Gangsterstück vom Rio de la Plata, das mit einem Überfall beginnt und mit einer Schießerei endet.
Zum Finale hat Castro, wieder im Theater mit dem blauen Schriftzug Karl Marx, die Preise verteilt, zum besten Film kürte die Jury überraschenderweise das stille Stück Eu, tu, eles (Ich, du, sie) des Brasilianers Andrucha Waddington; einen weiteren Preis erhielt Barbet Schroeder für den Film La virgen de los sicarios (Die Jungfrau der Killer), der im Bandenmilieu von Medellin in Kolumbien spielt. Dann war Feierabend, aber Fidels Spätvorstellung geht weiter, immer weiter.