Freitag: Die Ost-West-Wochenzeitung - 8. Januar 1999

Geri Krebs

Kubanisches Mysterium

20. FILMFESTIVAL IN HAVANNA

Zur allgemeinen Überraschung landete seit vielen Jahren erstmals wieder ein kubanischer Film einen großen Erfolg

Groß waren die Erwartungen an das Ende vergangenen Jahres stattfindende lateinamerikanische Filmfestival in Havanna, schließlich handelte es sich um eine Jubiliäumsausgabe. Immerhin ließen die Organisatoren, die 1997 mittels einer gegenüber dem Vorjahr um 20 Prozent gesteigerten Zahl von Filmtiteln das Festival an die Grenzen seiner Belastbarkeit gebracht hatten, sich diesmal nicht dazu verleiten, es noch weiter zu vergrößern. Es blieb bei rund 500 Filmen.

Bemerkenswert war die starke qualitative Präsenz kubanischer Filme, das Wiedererstarken des brasilianischen Kinos sowie der weiter wachsende Druck zu internationalen Koproduktionen.

Welches Ausmaß die materielle Krise des Landes hat und wie sie sich auch auf die Filmproduktion auswirkt, zeigte sich dagegen einmal mehr darin, daß unter den 50 Wettbewerbsfilmen aus elf lateinamerikanischen Ländern in der Spielfilmkategorie gerade zwei aus Kuba zu finden waren. Schlicht und einfach Ché hieß der eine, er ist als platte Heldengeschichte über den Revolutionsheroen von Regisseur Miguel Torres in Szene gesetzt und so unsäglich, daß man ihn besser gleich vergißt.

Ganz anders dagegen La vida es silbar (Leben heißt pfeifen) von Fernando Pérez, ein Film, von dem sich schon jetzt sagen läßt, daß er zu den Meilensteinen nicht nur des kubanischen, sondern gesamten lateinamerikanischen Kinos gehören wird. Völlig zu Recht erhielt La vida es silbar denn auch nicht nur den großen Preis des Festivals zuerkannt, sondern auch noch erste Preise in den Kategorien Kamera, Regie und beste Nachwuchsschauspielerin. Es war seit 1993 das erste Mal, daß wieder ein kubanischer Spielfilm beim Festival von Havanna einen derartigen Triumph erlebte. Damals war es der Film Fresa y chocolate (Erdbeer und Schokolade) von Tomás Gutiérrez Alea und Juan Carlos Tabío gewesen, der sich diese Auszeichnungen geholt hatte.

Der 54jährige Fernando Pérez (frühere Filme: Madagaskar und Hello Hemingway) legt mit La vida es silbar einen Film vor, der zwischen Drama und Komödie oszilliert. La vida es silbar ist ein äußerst komplexes und athmosphärisch dichtes Mysterienspiel, das in gleicher Weise vom absurden Theater wie vom Surrealismus beeinflußt ist. In seinem Film entwickelt Fernando Pérez drei parallele Geschichten dreier Personen aus dem real existierenden Alltag des heutigen Havanna. Elpidio, ein jugendlicher Kleinkrimineller, verliebt sich in eine Ausländerin; Mariana, eine junge Tänzerin, will Karriere beim Ballett machen, und Julia, eine Altenpflegerin, hat unerklärliche Ohnmachtsanfälle. Kontrastiert werden diese drei Handlungsstränge mit einer feenähnlichen Frauengestalt, die den drei Personen zu ihrem Glück verhelfen will. Die gute Fee scheitert schließlich, während sich die Wege der drei ProtagonistInnen erstmals kreuzen, und sie merken, daß sie ihr Leben in die eigenen Hände nehmen müssen.

"Die Lösung liegt bei ihnen selbst, es gibt keine Macht, die für sie etwas regeln und ihre Probleme lösen kann", erklärte Fernando Pérez auf der Pressekonferenz im Anschluß an die Filmpremiere auf die Frage, welches für ihn die zentrale Aussage seines Films sei. In einem Staat wie Kuba, wo nach wie vor ein immenser staatlicher Paternalismus und eine amtlich verordnete Passivität herrschen, haben derartige Worte durchaus Sprengkraft. Die Reaktionen auf den Film waren denn auch größtenteils überschwenglich, vor allem in einheimischen Cinéastenkreisen. "Fernando, wir brauchten deinen Film, er hat uns bisher gefehlt" schwärmte etwa Rufo Caballero, Kubas gestrengster und unerbittlichster Filmkritiker, der sonst nicht gerade zum Überschwang neigt. Enrique Alvarez, einer von Kubas hoffnungsvollsten Filmregisseuren der jungen Generation, schrieb am Tag nach der Premiere in der Festivalzeitung auf der Titelseite gar eine Art Liebeserklärung an Fernando Pérez: »Danke, Fernando, dafür, daß du uns gezeigt hast, daß Mariana, Julio und Elpidio existieren. Denn es ist gut zu wissen, daß wir nicht allein sind. Und danke für die Poesie, und für Havanna und für Kuba.«

Zusammen mit seinem Kameramann Raúl Pérez Ureta schafft es Fernando Pérez in La vida es silbar, ein Havanna zu zeigen, das von bekannten Bildern ausgeht, aber trotzdem total anders ist, als alles, was man bis jetzt im Kino von der kubanischen Metropole gesehen hat. Einen Teil des Entstehungsprozesses von La vida es silbar hat der Schweizer Dokumentarfilmer Beat Borter im letzten Sommer in Havanna filmisch begleitet. La vida es filmar nennt Borter seinen Film, der weit mehr als ein konventionelles Making-Off ist, und der einiges von der Magie des Kinos des Fernando Pérez einzufangen versteht. Borters Film stieß auf derart großes Interesse, daß ihm sogar die Festivalzeitung einen Artikel widmete.

Der emotional bewegendste Moment des Festivals war schließlich die Projektion eines Dokumentarfilms, den ein Kubaner gemacht hat, der seit Jahren größtenteils in Spanien lebt. Rolando Díaz, der Bruder des exilierten Schriftstellers Jesús Díaz, legte mit Si me comprendieras (Wenn du mich verstehen würdest) eine hervorragende Sozialstudie über die alltäglichen Lebensbedingungen von acht jungen schwarzen Frauen im heutigen Havanna vor. Der Film spricht Themen an, die in Kuba nach wie vor nicht öffentlich diskutiert werden: Rassismus, Emigration und die traumatischen Erfahrungen, die viele Menschen mit »internationalistischen Missionen« gemacht haben. Wildfremde Leute fielen Rolando Díaz am Kinoausgang um den Hals und beglückwünschten ihn und wünschten sich, daß es mehr Leute gäbe, die so viel Mut aufbrächten wie er. Obwohl der Film von der Festivalleitung völlig marginalisiert worden war und nur einmal gezeigt wurde, bewies die internationale Jury ihre Unabhängigkeit und verlieh Si me comprendieras den Spezialpreis der Jury.

Im internationalen Wettbewerb fiel auf, daß das brasilianische Kino, das Anfang des Jahrzehnts wegen der damaligen Kahlschlagpolitik der Regierung Menem fast völlig verschwunden war, wieder die zahlenmäßige Präsenz erlangt hat, die es in den achtziger Jahren schon einmal hatte. Der bereits vergangenen Februar in Berlin ausgezeichnete Film Central do Brasil von Walter Salles gehörte denn auch in Havanna - wo er den dritten Festivalpreis erzielte - zu den herausragenden Beispielen eines brasilianischen Kinos, das wieder voll auf der Höhe seiner Schaffenskraft ist. Kenoma, ein anderer brasilianischer Film von der jungen Regisseurin Eliane Caffé, war indes innerhalb des ganzen Wettbewerbs eines der bildgewaltigsten Werke. Erzählt wird in Kenoma - welches einfach ein Ortsname ist - wie in einem gottverlassenen Kaff im Nordosten Brasiliens ein verträumter Handwerker den alten Menschheitstraum vom Perpetuum mobile realisieren will. Der Film, bezüglich ästhetischer Qualitäten etwas vom Schönsten am diesjährigen Festival von Havanna, ging bei der Preisverleihung leider leer aus.

Brasilien ist im übrigen neben Argentinien praktisch noch das einzige Land des Kontinents, das einige seiner Filme nicht als Koproduktionen mit europäischen oder nordamerikanischen Partnern realisieren muß. Es ist mittlerweile schon eine Ausnahme, wenn ein Film aus Lateinamerika keine Koproduktion ist. Auch La vida es silbar konnte nur mittels einer spanischen Produktionsfirma und wesentlichen finanziellen Zuschüssen aus Japan verwirklicht werden.

Quelle: http://www.freitag.de/1999/02/015.htm