16. Festival des Neuen Lateinamerikanischen Kinos Havanna 1995

Filmbeschreibungen:


Spiele statt Brot?

Vermischte Nachrichten vom 16. Festival des lateinamerikanischen Films.

Hanna Schygulla gab sich zur Eröffnung den Gesangskünsten hin, die ihr einst Rainer Werner Fassbinder nahegebracht hatte und die nun an Marlene Dietrich erinnern sollten, auch ans Kino, das bald hundertjährige, denn die Lateinamerikaner wollen da mitfeiern, schließlich sind ihre Kinematografien fast genauso alt. Irritierend nostalgisch der Auftakt zu einem Festival, das immer wieder von all jenen totgesagt wird, die nicht mehr an die Zukunft jenes Kubas glauben, dessen Kulturpolitik dieses Ereignis 1979 hervorbrachte und das nun alljährlich beweist, dass es trotz Notstand existenzfähig und sogar nötig ist - für die Insel wie für den Kontinent.Es gehört zur Strategie der Verantwortlichen, daß es nicht nur den zugereisten Happy few in ihrem Fünf-Sterne-Getto nützen soll, sondern auch den Kubanern, die daran teilhaben wollen: ein Stück Licht in ihrer nächtlichen Dunkelheit, ein bißchen Vergnügen im alltäglichen Kampf um das Nötigste. Und weil der Verkehr nur noch von Bussen mühsam aufrecht erhalten wird, die anderswo längst aus dem Verkehr gezogen wurden, ging das Festival zu seinem Publikum und zeigte in allen Kinos von Havanna und von einigen Provinzstädten eine Auswahl aus dem umfangreichen Programm.

Die filmfreudigen Kubaner kennen keine solchen Assoziationen, sondern bilden endlose Schlangen vor den Filmtheatern, weil sie auf ein internationales Spektakel hoffen, das es sonst nicht zu sehen gibt. Neuerdings können sie auch Filme betrachten, die jahrzehntelang im Bunker lagen wie der berühmte P.M., ein heute harmlos wirkender Dokumentarfilm über das Nachtleben von Havanna, 1961 als Skandalon von demselben Filminstitut ICAIC verboten, das ihn jetzt wie selbstverständlich im Rahmen einer großsen Retrospektive des kubanischen Kinos vorführte, in der im nächsten Jahr auch alle Werke von abtrünnigen Regisseuren gezeigt werden sollen. Doch die Öffnung, vom reformerischen ICAIC- Präsidenten Alfredo Guevara vorsichtig betrieben, hat Grenzen. Die Massenflucht über das Meer ist zwar in allen Details aufgenommen worden, aber niemand wagte es, darüber einen Film zu machen.

Der bekannte Dokumentarist Luis Felipe Bernaza hat das traumatische Geschehen mit eigenen Mitteln und auf Video drehen müssen, um auch die kubanische Sicht zur Geltung zu bringen. Vor Jahren wäre das nicht möglich gewesen, wäre sein halbstündiger Wetterbericht auch nicht im Wettbewerb der Dokumentar- und Videofilme gezeigt worden. Er bestätigt in seinem Bericht über den Bau wahnwitziger Flöße und die Argumente der Flüchtlinge, daß keiner aus politischen Motiven, sondern nur wegen der unerträglichen Lebensumstände die für viele tödliche Reise antreten wollte.

Ansonsten bot das kubanische Kino zwar die für die Notzeit erstaunliche Anzahl von vier Produktionen, doch darunter nur einen überragenden Beitrag: MADAGASKAR von Fernando Perez. Er gehört zu einem Episodenfilm, der drei Regisseuren Arbeit geben sollte, weil sie anders nicht hätten beschäftigt werden können. Perez wurde als erster fertig. Er versucht die Gesellschaftskritik, die gewöhnlich in kubanischem Filmen innerhalb eines realistischen Komödienkanons abgehandelt wird (was bei ERDBEER UND SCHOKOLADE zum Welterfolg geworden ist), in eine eigene Bildästhetik umzusetzen. Ein Beziehungsproblem als Generationskonflikt bildet den Angelpunkt der Geschichte: Mutter und Tochter verstehen sich und die Welt nicht mehr, was der Physikprofessorin den Schlaf bzw. die Träume raubt und das Mädchen in eine Traumwelt fliehen läßt: nur weg, irgendwohin, eben nach Madagaskar (für einen Menschen der Karibik muß das besonders exotisch sein). Sie befinden sich ständig im Aufbruch, ziehen pausenlos umher, aber die äußere Mobilität ist nur Flucht vor der inneren Verkrampfung. Die Tochter zieht es in eine Religionsgemeinschaft, die wenigstens den Anschein erweckt, als ob man dort "abheben" könnte. Die Mutter muß erkennen, dass es für sie, die gerade wiederausgezeichnete Wissenschaftlerin, keinen Platz mehr gibt in einer innerlich ausgehöhlten und zunehmend desorientierten Gesellschaft. Ein deprimierender Befund, wie ihn kein anderer kubanischer Beitrag wagte. Die Jury hat seine Leistung mit ihrem Spezialpreis gewürdigt.

DER ELEFANT UND DAS FAHRRAD von Juan Carlos Tabío, dem Co-Regisseur von ERDBEER UND SCHOKOLADE, krankt dagegen an der ermüdenden Konfrontation einer realen Handlung mit einer Fiktion in Form von Ausschnitten aus kubanischen Filmen. Der Spiegel, in den die Figuren und damit das Publikum ständig hineinstarren soll, wird allmählich stumpf.

Selbst Julio Garcia Espinosa,einem der Begründer des neuen kubanischen Films, gelingt in seiner Komödie REYNA UND REY nicht der harte Griff auf die Wirklichkeit, dafür wirken seine neorealistischen Mittel einfach zu sanft und traditionell. Die Story um die alte Frau, die ihren Hund ins Tierheim verfrachten will, weil sie für ihn nichts mehr zu essen auftreiben kann, hat zwar hohen symbolischen Wert, doch der Appell zur Solidarität bleibt schwach.Im nächsten Jahr wird zwar noch einmal Tomas Gutierrez Alea antreten, aber daneben wird eine neue Generation von Filmemacher auf sich aufmerksam machen, die sich bisher außerhalb des offiziellen Apparats an bemerkenswerten Experimenten übten und dann hoffentlich frischen Wind in das soeben geliftete Erscheinungsbild des ICAIC bringen werden.

Im übrigen Lateinamerika war 1994 ein schwieriges und oft nicht ergiebiges Produktionsjahr. Die politisch-moralische Krise Argentiniens, die sich unter dem Regime Menems ausgebreitet hat, scheint auch die Filmemacher infiziert zu haben. Der Wille zum Kommerz ist beinahe überall stark ausgeprägt. Und wenn jemand wie Gerardo Vallejo, der immerhin aus dem Umfeld des Revolutionsklassikers LA HORA DE LOS HORNOS stammt, seine politische Biografie aufarbeitet, dann wird daraus Schwulst und Larmoyanz, weil er seine Geschichte heute nur noch MIT DER SEELE, so der Filmtitel, begreifen will.

Mexiko, der kulturelle und geografische Gegenpol, hat statt dessen im nun zu Ende gegangenen Sexenium von Salinas eine offensichtlich fruchtbare Phase der Filmpolitik hinter sich. Zumindest vergab die Jury ihre drei Hauptpreise an mexikanische Produktionen. Ich finde das ungerecht, denn wirklich überzeugend ist keiner der Beiträge: nicht Arturo Ripsteins dreistündiges Melodrama ANFANG UND ENDE mit seiner quälend langen Exposition; auch nicht BIENVENIDO WILLKOMMEN) von Gabriel Retes, in dem sich ein Aids-Schicksal mit Problemen des Filmemachens unglücklich vermischt: und nicht einmal Maria Novaros GARTEN EDEN, das Grenzdrama der mexikanischen Wanderarbeiter, das nur die Oberfläche der Probleme berührt.

In Brasilien herrscht kinematografischer Notstand, seit ein Staatspräsident, der inzwischen der Korruption angeklagte Collor de Mello, die einheimische Filmförderung beseitigte. Mit einer Fülle von ganz beachtlichen Kurzfilmen haben sich viele Regisseure über Wasser gehalten. Einem gelang es jetzt sogar mit bewundernswertem Mut, einen Spielfilm fertigzustellen. Sergio Rezende beschäftigt sich in LAMARCA mit den beiden letzten Jahren des legendären Armeehauptmanns, der, beeindruckt von Che Guevaras Ideen, 1969 desertierte, um sich einer kleinen revolutionären Bewegung anzuschliessen. Rezende zeigt das distanzierte, wenn auch allzu breitflächige Bild eines sozial bewegten Idealisten, der angesichts des Machtapparats und fehlender Basis nur scheitern konnte. Er vermeidet jegliche Verherrlichung, weil es ihm nicht um Nachfolge, sondern um Erinnerung an einen der wenigen Revolutionäre Brasiliens geht. Die brasilianische Kinematografie dürfte sich jedoch bald wieder von ihrem Tiefpunkt erholen, denn das Parlament hat endlich ein neues Gesetz für die audiovisuellen Medien abgesegnet und sogar umgerechnet 60 Millionen Mark für die vom Staat in die Not gestürzte Filmbranche bereitgestellt: dreißig Projekte harren der Realisierung. Es müßte also aufwärtsgehen wie auch in Argentinien, wo der bisherige Leiter des Filminstituts wegen allzu ungenierter Bereicherung abgelöst wurde und neue gesetzliche Maßnahmen 45 Millionen Mark für die Filmförderung bereitstellen.

Selbst im krisengeschüttelten Peru und Venezuella gibt es Hoffnung, weil auch hier die Strukturen verbessert wurden. Wenn das Umfeld wieder stimmt, der kommerzielle Druck geringer ist, dann werden hoffentlich auch die Konzessionen an den Publikumsgeschmack geringer. Daran krankte schliesslich der Versuch des Venezolaners Jose Novoa, in seinem SICARIO das eindringliche Porträt eines Halbwüchsigen zu schaffen, der früh in den Teufelskreis von Armut und Gewalt gerät und dann systematisch zum Killer gemacht wird. Doch die konkrete Milieuschilderung mündet schließlich in einer Verherrlichung des Täters, der eigentlich Opfer ist.

Wenn Miguel Littin nur etwas bescheidener mit seiner üppigen Phantasie umzugehen verstünde, dann hätte aus seinen SCHIFFBRÜCHIGEN erneut ein großer chilenischer Film werden können. Denn es ist die jüngste Geschichte seines Landes und zum Teil seine eigene, die er hier in der Story eines Emigranten erzählt, der heimkehrt und doch nicht zu Hause ist, weil Vergangenheit und Gegenwart ihn gleichermassen bedrängen. Den politischen und menschlichen Ballast, den er mit sich herumschleppt, wird er nicht los, genauso wenig wie der Zuschauer der Metaphernwut Littins entgehen kann. Doch immerhin hat hier einer seine Phantasie sprießen lassen, und das ist zur Zeit rar im lateinamerikanischen Film.

Peter B. Schumann in: Frankfurter Rundschau 14.12.1994 S. 7